8
Nov
2010

Klassentreffen

Alan de Botton sagt hier, man solle Klassentreffen meiden - weil dort der Neid regiere. Weil dort jeder jeden nur an dem messe, was er karrieremässig erreicht hat.

Ich glaubte de Botton und fürchtete mich vor unserem Klassentreffen. All diese Ärzte und Juristen! Wie würde ich denen meinen Job erklären? Wie würde ich rechtfertigen, dass ich meine reichliche bemessene Freizeit mit Spaziergängen und Prokrastination am Computer verbringe. Und dass ich... ähm... lieber den billigeren Rioja als die schöne Flasche Amarone hätte.

Aber ich hatte vergessen, wie meine Klasse gewesen ist. Bei uns sind immer diejenigen am coolsten herübergekommen, die sich nicht gross um dieses ganze Doktortitel-Einfamilienhäuschen-Grossesauto-Kinderkriegen-Getue scherten. Und am Samstag stellte sich heraus: In dieser Hinsicht hatte sich nichts geändert. Hier war nicht das Erlangen von Besitz und Status ein Thema. Hier war es die Sorglosigkeit, die Eindruck machte. Ein paar Quotes gefällig?

Undine, Künstlerin und Übersetzerin (die ihren Sohn in Kolumbien zur Welt gebracht und viele Jahre dort gelebt hat): "Weisst Du, in Kolumbien sagt man: 'Jedes Kind kommt mit einem Laib Brot unter dem Arm zur Welt'."

Helene, Zeichenlehrerein, eben von einem halbjährigen, anscheinend in Müssiggang verbrachten Urlaub im Süden zurückgekehrt: "Ich musste einfach weg. In der Schweiz kannst Du nicht nicht arbeiten. Da gerätst Du unter einen solchen Druck... da habe ich gekündigt und bin weggefahren."

Theodor, Jurist mit einem Juristen-Job, hat die Normalität auf eine andere Art verweigert. Als Maturand war er ein wandelnder Hungerturm. Er schien sich von Zigaretten und Bier zu ernähren. Er ist, naja, wie soll ich sagen... etwas korpulent geworden. Und, weiss Gott: Er hat sich seinen zwischen Zynismus und Zärtlichkeit oszillierenden Humor bewahrt. Irgendwann an jenem Abend wurde mir klar, dass ich diesen Humor seit zweieinhalb Jahrzehnten vermisse.

Und: Ich kam mir fast ein wenig bieder vor.

Nein, ich will meine Kollegen von einst nicht idealisieren. Ich meine: Bei unseren Lehrern galten wir zwar als aussergewöhnlich liebenswürdige und intelligente Klasse. Sie steckten Schüler zu uns, die woanders gemobbt wurden. Bei uns wurde niemand gemobbt. Aber Spannungen gab es da durchaus. Nach der Matura war mir zumindest, als würde eine Art innerer Druck uns in alle Himmelsrichtungen schleudern. Naja, einige blieben befreundet. Aber gehörten wir je wirklich zusammen? Ich glaube nicht. Ich weiss nur: Am Ende des Abends war ich seltsam froh, wieder zu Herrn T. zurückkehren zu können.

Und doch: Es war ein schöner Abend. Theodor kam für den köstlichen Amarone in unserer Ecke auf.

5
Nov
2010

Als das Hochwasser kam

Heute, kurz nach 16 Uhr. Hinter uns leuchtet die Wiese smaragdgrün in der sinkenden Sonne. Neben uns ein Bahndamm. Hobby-Schafzüchter Kari (71) erzählt vom Hochwasser 2005: "Ich hätte nie gedacht, dass das Wasser so hoch kommen würde", sagt er, "Als es kam, stand ich in meinem Haus vor dem Kellerregal. Ich stapelte die Vorräte von den unteren auf die oberen Regale. Schliesslich stand mir das Wasser am Bauchnabel. Da wusste ich, dass ich aufhören musste. Ich ging die Treppe hoch. Hinter mir knallte das Wasser die Kellertür zu. Wäre ich noch drin gewesen, ich hätte sie nicht mehr aufbekommen. Dann wäre ich jetzt nicht hier."

Schwierig zu erklären, wie ich an diesen Tisch auf der Wiese gekommen bin. Marcel (55) schenkt mir eine zweite Tasse Kaffee ein. Der dritte Mann hier ist bestimmt bald 80. Sie sprechen den Dialekt vom Land. Gleich werden sie "die Zeitung" - solid bürgerlich - ein "linkes Blatt" schimpfen.

Ich gehöre nicht hierher. Ich sollte im Zug nach Solothurn sitzen. Ich sollte mit Herrn T. ins Theater. Er wollte, dass ich mitkomme. Emilia Galotti. Und, ja, ich wäre neugierig darauf gewesen, was man in diesen finsteren Zeiten aus dem Aufklärungs-Klassiker machen kann. Aber es gehört zu den Dingen, die die Krankheit an mir verändert haben: Ich habe eine Abneigung gegen abendliche Zugreisen. Nichts schlimmeres als ein Hörsturz in einem vollgepferchten Zug!

Und noch etwas ist anders als früher. Auch das verstehe ich nicht ganz. Aber egal. An einem Tag wie heute vergesse ich, dass ich einmal ein kulturinteressierter Mensch gewesen bin. Ich will nur noch hinaus an die Sonne. So zog ich heute Morgen die Wanderschuhe an und bestieg einen Vorstadt-Hügel, der den passenden Namen "Sonnenberg" trägt.

sonnnenberg_littau 002

An seinem hinteren Ende hört die Stadt auf, und das Land beginnt. Von hier stieg ich hinunter.

Lehn, Kriens, Switzerland

Kurz vor dem Vorstadt-Bahnhof kam ich am Waldrand mit einem Fremden ins Gespräch. Das war Marcel, und es stellte sich heraus, dass er einen pensionierten Berufskollegen von mir kannte. Hobby-Schafzüchter Kari eben. "Hey, er steht gleich da drüben auf der Wiese hinter dem Bahndamm!" sagte Marcel. So kam es, dass ich ein paar Dinge tat, die ich früher nie getan hätte. Ich stieg über einen Vorstadt-Bahndamm. Ich trank mit drei alten Männern auf einer Wiese Kaffee.

Kari erzählt weiter vom Hochwasser: "Auf der Wiese hier lag ein halber Meter Schlamm und Kies. Der Fluss hat alles überschwemmt." Das ist ziemlich erstaunlich. Denn der Fluss liegt zweihundert Meter weiter drüben, hinter dem Bahndamm. Und der ist einen Meter hoch. Aber eben: Es war ein gewaltiges Hochwasser. Der Kleine Fluss donnerte wie ein Tsunami über die Ebene. Kari erinnert sich noch genau. "Es war am 21. August, und das Wasser kam gegen neun Uhr abends."

Ich war seltsam wach, seltsam heiter. Vielleicht enthielt Marcels Kaffee mehr Koffein als ich gewohnt bin. Ein paarmal dachte ich an Emilia Galotti. War ich am richtigen Ort? Ich wusste es nicht.

2
Nov
2010

Im Spital

Vor einem Jahr war ich im Spital. Es ist nicht eine Zeit, an die ich mich gern erinnere. Und doch: Der letzte Herbst hat mein Leben so radikal verändert, dass diese Tage erinnert sein wollen. Schon seit September habe ich düstere Déjà-vus. Ich sitze mittags mit meinen Kollegen in der Cafeteria. Draussen wirft die Sonne hartes, blaues Licht auf die Strasse. Und plötzlich erinnere ich mich an jenen Tag vor einem Jahr, als ich am selben Platz sass. Die Sonne schien genau gleich und dann füllte das Dröhnen meine Ohren und ich konnte meine Kollegen nicht mehr reden hören. Mir wird ganz eng im Hals, wenn ich daran denke.

Dennoch spiele ich die Erinnerung immer wieder durch. Etwas in mir will so erreichen, dass ich weniger entsetzt sein werde, wenn es das nächste Mal passiert. Aber bin nicht sicher, ob das geht.

31
Okt
2010

Sogar der Pfarrer weinte

Wenn von Beerdigungen die Rede ist, fällt mir immer jene von Onkel Jakob ein. Das war nicht nur ein schönes Begräbnis. An jenem Tag passierte sogar ein Wunder. Doch der Reihe nach.

Onkel Jakob starb in einer heissen Juliwoche 2006, kurz vor seinem 70. Geburtstag. Tante Magda bestellte mich für den Nachruf. Deshalb bekam ich die Vorbereitungen live mit.

Onkel Jakob starb auf seinem Bauernhof weit, weit hinten im Kanton. Die - selbstverständlich katholische - Kirche steht dort noch im Dorf, und es gibt dort Dinge zwischen Himmel und Erde, die ein Agglo-Mensch fast nicht begreifen kann.

Zwei Tage vor der Beerdingung stritten die Cousinen und der Cousin. Es ging um das Opfer. Für alle, die mit den Begrifflichkeiten einer katholischen Messe nicht vertraut sind: Kurz vor der Kommunion lässt der Pfarrer jeweils zwei Körbchen unter den Versammelten herumreichen. Jeder legt ein paar Münzen oder auch ein Nötli hinein. Das Geld, das so zusammenkommt, heisst "das Opfer" und wird einem guten Zweck gespendet. An einer Beerdigung dürfen offenbar die Trauernden über die Verwendung bestimmen.

Cousine Claire sagte: "Papi liebte Vögel. Die Spende sollte der Vogelwarte zugute kommen." Cousin Moritz war anderer Meinung. "Wir sollten sie der Kirche geben", sagte er, "Du weisst doch: Die Renovationsschuld ist immer noch nicht abgezahlt." Die beiden anderen Cousinen und Tante Magda waren unentschlossen. Eine Stunde lang ging es zu und her wie in einem Parlament. Dann gab es einen Kompromiss: Die eine Hälfte des Opfers sollte der Vogelwarte zugute kommen. Die andere der Kirche.

Die Beerdigung war an einem schwülen Tag. Bleischwer lag die Luft auf dem Dorf. Nie werde ich den Weinkrampf der hoch schwangeren Cousine Luzia vergessen. Sonst lief alles gut. Auch das Opfer. Der Pfarrer liess die Körbchen herumreichen und verkündete den Verwendungszweck der Spende - wobei er die Idee mit der Vogelwarte Sempach ein bisschen ins Lächerliche zog. Was ich nicht ganz in Ordnung fand. Aber wir waren hier auf dem Land. Ich musste nicht alles verstehen.

Dann war die Messe vorbei. Die Männer trugen den Sarg hinaus. Über dem Tal kündigten graue Wolken ein baldiges Unwetter an. Die Trauergemeinde war gross. Es dauerte eine Weile, bis alle vor dem offenen Grab standen. Dann wurde es still. Ganz still.

Genau in diesem Moment wirbelte ein halbes Dutzend Mauersegler übers Kirchdach auf den Friedhof. Laut jubilierend zogen die Vögel ein paar Kreise über dem Sarg von Onkel Jakob.

Es war phänomenal. Kein Auge blieb trocken. Sogar der Pfarrer weinte.

Dann verschwanden die Vögel wieder, wie sie gekommen waren. Der Pfarrer sagte mit brüchiger Stimme: "Die haben sich jetzt für das Opfer bedankt!"

30
Okt
2010

Bericht aus der Kampfzone

Eben komme ich von der Demo zämestah in Bern zurück.

Zwei Zitate aus den Reden:

"Bald wird niemand mehr für die Invalidenversicherung bezahlen wollen. Denn wenn man sie braucht, ist sie nicht mehr da." Peter Wehrli, Zentrum für selbstbestimmtes Leben.

Katharina Prelicz ihrerseits, Grüne Nationalrätin, berichtete von ihrer Arbeit in der Personalabteilung einer grösseren Firma in den neunziger Jahren. Allmählich seien die Jobs für aus gesundheitlichen Gründen leistungsschwächere Mitarbeiter verschwunden. "Ich bekam von der Firmenleitung dann jeweils den Auftag: 'Melden Sie diese Leute bei der IV an'. So war das damals. Es ist auch heute noch so." (Nur eine Rente bekommt heute keiner mehr einfach so, weil er über 50 und seinem Arbeitgeber zu krank ist).

Die Forderung: Die Arbeitgeber sollen per Gesetz dazu veranlasst werden, Arbeitsplätze für Behinderte zu schaffen. Frühestens dann soll sich die Politik Gedanken über die Streichung von Renten machen. Besser noch wäre eine gerechte IV.

Ich war angenehm überrascht, dass unter den gegenwärtigen politischen Vorzeichen überhaupt ein paar Unentwegte sich darüber Gedanken darüber machen, wie eine faire Invalidenversicherung aussehen könnte. Es waren nicht sehr viele. Ein paarhundert Köpfe. Es dürfen ruhig noch mehr werden!

Edit: Mehr über die Demo bei Mia.

Und jetzt zur Auflockerung ein schön kitschiger Soundtrack zu Halloween:

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