22
Okt
2010

Ein Deutscher flieht

In diesen Stunden verlässt ein deutscher Staatsangehöriger mit seiner Familie fluchtartig seine bisherige Wohngemeinde Triengen im schweizerischen Kanton Luzern. Der Hintergrund: Ihn störten die Kruzifixe in den Schulzimmern, die seine beiden Kinder besuchten. Er verlangte, dass die Schulleitung sie entfernte. Er bekam Morddrohungen.

Um diese Geschichte überhaupt zu verstehen, muss man wissen: Die luzerner Landschaft ist eine zutiefst katholische Weltgegend. Noch im vorletzten Jahrhundert zogen ihre Bewohner gegen den protestantisch dominierten Bundesstaat ins Feld - zum Glück erfolglos. In den letzten Jahrzehnten hat allerdings auch hier der religiöse Eifer merklich nachgelassen - wie überall sonst auch.

Doch dem wahrscheinlich ziemlich wirrköpfigen Freidenker aus Deutschland gelang es, die Geister der alten Zeiten wieder zu wecken. Er setzte sein Begehren mit Verweis auf ein Bundesgerichtsurteil aus dem Jahre 1990 durch. Die Kreuze verschwanden. Und die Christenheit der Luzerner Landschaft erwachte schlagartig und warf sich in die Brust. In Bergen von Leserbriefen mahnte sie die christlischen Grundwerte unseres Landes an. Sie verlangte nach dem Schutz der Mehrheit vor der Minderheit. Und nach und der Toleranz der Wenigen für die Vielen und derlei mehr.

Einverstanden: Der Mann hat kein Gramm Sensibilität im Leib. Sonst hätte er gemerkt, dass er seinen Kindern mit seiner Forderung keinen Gefallen tat. Er hätte den Kompromissvorschlag des Gemeinderates nicht ausgeschlagen und mit dem Gang vors Bundesgericht gedroht.

Aber Morddrohungen?! Hallo?!

Da würde ich jetzt doch erwarten, dass in der Luzerner Landschaft ein paar Leute sich auch tatsächlich auf christliche Grundwerte besinnen und dies der Öffentlichkeit kundtun. Ich meine: Soweit ich weiss, spielen bei den christlichen Grundwerten die 10 Gebote eine Rolle. Eines davon lautet: "Du sollst nicht töten." Daraus lässt sich doch sicher mühelos die Regel ableiten: "Du sollst keine Morddrohungen verschicken."

Ich habe mich ja schweren Herzens daran gewöhnt, dass die Errungenschaften der Aufklärung in diesem Land für die meisten nicht viel mehr als ein dünner Lack sind. Kratzt man leicht daran, dann merkt man: Hier wollen die meisten rationalen Argumenten gar nicht zugänglich sein. Wird sich nun herausstellen, dass auch dieses Getue über christliche Grundwerte nur eine dünne Farbschicht ist? Stehen dahinter nichts als die dicken Mauern von Ur-Instinkten? Etwa diesem: "Hier regiert das Recht des Rudels!"Oder diesem: "Jeder Fremde ist zuerst einmal ein Feind." Oder diesem: "Wenn er nicht hört und Du bist stärker, dann hau ihn!"

20
Okt
2010

Zämestah



via Mia und Journalistenschredder.

19
Okt
2010

Film für reife Frauen

Nowhere Boy beginnt mit dem ersten Akkord von "A Hard Day's Night". Ein unverkennbarer, etwas dissonant klingender Akkord. Sofort stellt sich die Betrachterin auf die muntere Hektik des gleichnamigen Beatles-Films von anno 1964 ein.



Doch Irrtum. Der Akkord ist ein starker Auftakt und nimmt lediglich vorweg, dass hier von einem späteren Beatle die Rede ist. Muntere Hektik gibts im Film wenig. Und auch kaum Beatles-Musik. Im Grunde müsste dieser Film auch gar nicht über John Lennon sein. Es handelt sich vielmehr um ein packendes Familiendrama mit zwei beeindruckenden Frauen mittleren Alters. Mütter sollten ihn sich unbedingt ansehen. Auch wenn 16- oder 17-jährige John nicht unbedingt zum Traumschwiegersohn taugt. Manchmal gibt Jungtalent Aaron Johnson ihn zwar als herzerweichendes, grosses Kind. Aber dann poliert er schon mal seinen Kollegen ohne Grund den Mund, schwingt sich auf das Dach eines grünen Doppeldecker-Busses oder macht in einem Plattenladen lange Finger. Kurz: Wäre er ein Migrantensohn in der Schweiz des Jahres 2010... die SVP würde ihn glatt ausschaffen wollen. Aber John hat Glück: Er ist Brite im Liverpool der späten Fünfziger. Er wird einmal ein Genie werden.

Und er ist hin- und hergerissen zwischen zwei Müttern. Da ist Tante Mimi, bei der er aufgewachsen ist. Die gehört zu jener Generation von Frauen, die der Krieg und anderes Ungemach hart wie Sheffield-Stahl gemacht haben. Und dann taucht auch noch Lennon's leibliche Mutter auf. Sie wirkt schon zu Beginn psychisch etwas instabil, etwas überdreht. Ihre Annäherung an den Sohn ist,... naja, wie soll ich sagen,... nicht ganz appropriate. Sie kuschelt und küsst etwas zu gern mit ihm. Dafür weckt sie bei John die Liebe zum Rock 'n' Roll.

Doch es muss einen Grund geben, weshalb John nicht bei ihr lebt, sondern bei Mimi. Und weshalb Mimi ihm nie gesagt hat, dass seine Mama nur eben auf der anderen Seite des Parks lebt. Nun, John wird es herausfinden. Und wir auch.

Unterdessen noch ein Zückerchen aus dem Soundtrack von "Nowhere Boy". Mit einer starken Frau.

18
Okt
2010

Taschenmaul

Er hiess natürlich nicht Louie, sondern Louis. Armstrong. Oder Satchmo - von "satchel-mouth" wie Taschenmaul, weil er beim Trompetenspielen die Backen blähte - und nicht etwa, weil er schwäbische Maultaschen liebte (naja, wer weiss, vielleicht liebte er sie doch...). Wie auch immer: Das hier für acqua, schneck und books. Für ein schönes Wochenende in Tübingen und eine tolle Ausstellung.



Und alle anderen wissen jetzt, wo ich mich so lange herumgetrieben habe.

12
Okt
2010

Alptraum

Als ich letzten Winter krank war, hatte ich fast Nacht für Nacht denselben Traum. Immer führte er mich zurück zur Stunde Null meiner Existenz. Es war 1993 oder 94, eine Zeit totaler Verwirrung. Ich hatte gerade fertig studiert. Ich wohnte in zwei Städten und pendelte zwischen bis zu drei Städten und einem behäbigen Kantonshauptort. Meine Jugendliebe hatte ich mir selber vom Hals geschafft. Meine Freunde sassen überall - nur nicht dort, wo ich jeweils gerade war. Und dann musste ich auch noch lernen, dass ich mich im Beruf meiner Wahl vertan hatte: Ich taugte nicht zur Bibliothekarin. Ich war 28 und wusste nicht, ob ich überhaupt zu etwas taugte.

Immer suche ich im Traum wie verrückt einen Job, eine Wohnung, ein Zuhause. Immer habe ich den Stress von damals, die Verlorenheit. Immer läuft alles anders als es dann wirklich gelaufen ist. Wenn ich aufwachte, brauche ich oft Minuten, bis ich sicher bin: Mein Gott, drüben liegt doch Herr T. und schläft! Ich habe doch eine Stelle! Ich habe das alles hinter mir. Ich bin jedesmal wahnsinnig erleichtert. Auch als ich im Wachzustand ein kaputtes Gehör hatte.

"Warum habe ich diesen vermaledeiten Traum?!" dachte ich manchmal. "Ich habe doch so schon genügend Probleme!"

Gestern Nacht hatte ich wieder denselben Traum. Aber ich schlief unruhig, und im Halbschlaf verstand ich ihn plötzlich.

Irgendwie stehe ich jetzt wieder an der Stunde Null meiner Existenz. Ich habe fast alle Pläne sistiert, die ich einmal gehabt habe. Ich habe keine Ahnung, was meine Gesundheit in den nächsten Jahren mit mir machen wird. Ich habe nicht einmal mehr Wunschträume.

Es ist, als wollte ich nochmals von vorne beginnen und alles anders machen. Es ist, als suchte ich die Kräfte, die ich damals gehabt habe.

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Journal einer Kussbereiten

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