Freunde, der Eintrag von gestern erwies sich als guter Anstoss für ein paar Gedanken zum kommenden Jahr. Sollte es einmal hart werden, so denkt dran:
1) Man ist stärker als man glaubt.
2) Falls man doch schwach werden sollte, ist meistens jemand da, der einem das Leben rettet.
Ich werde selber auch dran denken müssen. Mein gutes Ohr ist über Nacht wieder schwer abgestürzt. Noch weiss ich nicht, was ich tun soll. Aber ich bin fest entschlossen: Ich will 2010 wieder ein halbwegs normales Leben führen.
Erst wollte ich heute nicht weiterfahren mit meiner Serie "10 Songs". Denn mein gutes Ohr ist wieder abgestürzt. Es ist nicht so schlimm wie vor einem Monat. Aber es reicht für ein Cortison-Tabletten. Und dafür, dass Gitarren falsch klingen, Stimmen seltsam körnig und Bässe flachgequetscht (oder gar nicht).
Doch man soll sich nicht ins Bockshorn jagen, lassen, sagt jeweils Herr T. Ausserdem hatte ich für diesen Beitrag schon ein YouTube-Video getestet. Gestern hörte es sich ganz gut an. Hier ist es deshalb trotzdem. Für Euch:
Die ganze Wucht dieses Songs traf mich im September 1995. Ich war gerade dabei, den Liebeskummer jenes Sommers zu überwinden. Da wurde eines Nachmittags klar: Journalistinnen-Greenhorn Frogg war in die Wirren einer Zeitungsfusion geraten. Man schenkte mir schnell reinen Wein ein: Per Ende Jahr würde mein Job nicht mehr existieren. Der erste Job, auf den ich stolz war. Es herrschte Wirtschaftsflaute. Es war hart.
Ich bin kein Mensch mit angeborener Zuversicht und sorgsam gefördertem Selbstvertrauen. Ich sah schwarz für die Zukunft. Ehrlich gesagt: Ich war am Rande eines Nervenzusammenbruchs.
Ich wohnte damals in einer Vierer-WG (meiner letzten, ich war ja schon 30). Da waren Nina, Lora und Andreaszwei. Eines Abends legte Lora diese CD auf.
Wir hörten "I schänke Dir mis Härz". Eine Offenbarung. Der beste Schweizer Song, den ich je gehört hatte. Dieser Sound. Dieser verhaltene Takt. Dieser Blues. Das war genau der Blues, den ich selber hatte. Und der Text? Naja... dem Typen im Song ging es ja irgendwie wie mir. Da war ich, naiv, in einem Spiel beschissen, dessen Regeln ich nicht kannte.
Der Song wurde der Soundtrack der langen WG-Abende jenes Herbstes. Und meine WG rettete mir damals das Leben. Mehr als einmal.
Tja. Wie es mit dieser Rubrik weiter geht, weiss ich noch nicht. Die meisten Songs habe ich beisammen. Und eigentlich bin ich fest entschlossen, auch noch über sie zu schreiben. Aber ehrlich gesagt: Wenn ich sie selber nicht hören kann, habe ich keine Lust. Wir werden sehen.
Fast schon mit Bestürzung stelle ich fest: Es gibt Songs, zu denen keine YouTube-Videos greifbar sind. Zum Beispiel zu Aare von Stiller Has. Das bedaure ich. Denn das Phänomen Stiller Has lässt sich audiovisuell am besten begreifen. Leider gibt es auch keine anderen brauchbaren YouTube-Videos zu den frühen Has-Zeiten mit Balts Nill. Deshalb muss ich Euch diesmal mit einem Link zu einer Hörprobe abspeisen.
Hört sie Euch an und stellt Euch Frau Frogg vor, im Jahre 1995, an einem Open Air. Vorne auf der Bühne lässt Balts Nill die ersten Takte von "Aare" erklingen. Dann hebt Endo Anaconda an zu diesem durchaus satirisch gemeinten Song über Berner Zustände. Doch die Frogg hört keine Satire, sondern nur abgrundtiefe Melancholie. Ihr wogt das Augenwasser über. Mächtig. So mächtig wie die Fluten der Aare im Frühling zuvor. Sie hatten, braungrau, das Berner Mattenquartier überschwemmt. Auch das Strässchen, das zur Wohnung von Michelangelo führte. Michelangelo. Dieser furchtbar komplizierte Realität gewordene Traummann. Die Aare, die träge an seinem Haus vorbeifloss. Wie grün sie war. Wie still sein Zimmer. Wie rot sein Bettzeug.
Der Song ging weiter, und die Tränen von Frau Frogg flossen in Strömen. Denn die Liebe zu Michelangelo war nur zwei, drei Wochen zuvor zerbrochen. Das war eine Tragödie, das Ende einer Epoche. Ich war 30. Meine Zukunft ungewiss.
Mit fünfzehn Jahren Zeitabstand ist das alles viel weniger schlimm. Er war ja nur Liebe Nummer Vier oder - je nach Zählart - Fünf oder Sechs. Eine Liebe mit schlechten Karten, schlecht gespielt. Auch von mir. No hard feelings. Später habe ich Stiller Has noch ein paarmal gesehen, mit Liebe Fünf. Wir haben uns göttlich amüsiert.
Aber wenn ich "Aare" höre, dann stehe ich wieder und wieder in diesem Moment, in dem mir die Tränen hochwogen.
Mein rechtes Ohr erlaubt mir, Musik zu hören. Das tue ich jetzt. Tagtäglich zappe ich mich auf dem MP3-Player durch meine Essentials. Durch all jene Songs, die ich noch so oft wie möglich hören muss, bevor ich taub werde. Zum Beispiel den hier:
Bestimmt mutet diese Wahl manch einen merkwürdig an. Sollte man sich nicht durch die bleibenden Werte der Musikgeschichte hören, bevor man taub wird? Beethoven? Mozart? Oder, allenfalls, Gershwin? Nein, findet die Frogg ganz entschieden. Sie hört sich durch jene Songs, die ihr Leben sind. Jene Songs, die sie sich in jede Faser ihres Körpers gehört, getanzt, geliebt hat. Damit sie sich später noch erinnern kann. Zum ersten Mal hört sie nicht einfach mit Gefühl. Zum ersten Mal hört sie mit einem gewissen Sinn für die Kleinarbeit am grossen Song: für Strophen, Soli, Takte, Bassriffs.
"Where The Streets Have No Name" steht am Anfang einer ganzen Strasse von Hymnen, die ich in meinen frühen Zwanzigern hundertmal gehört habe. Auf diesem Album.
Gewiss, Musikkritiker schnödeten damals, 1987, gern über U2. "Frömmelei! Pseudo-religiöses, pseudo-politisches Geute! Falsches Pathos!" keiften sie. Doch der zwanzigjährigen Frau Frogg war das Pathos echt genug. Und die Religion konnte so pseudo sein wie sie wollte. Sie ignorierte sie einfach. Was U2 betraf, war sie sogar mit ihrem Bruder einig, was sonst selten vorkam. Denn die junge Frau Frogg war im Geiste ein verspätetes Kind der siebziger Jahre. Sie glaubte an Freiheit, Ideale, Engagement und den Sinn im Rausch. Ihr Bruder aber, nur drei Jahre jünger, gehörte zu einer anderen Generation. Er verfolgte, wohl auch abgeschreckt durch das Beispiel seiner Schwester, lieber realistische Ziele.
U2 überbrückten diese Kluft. Sie gaben all den grossen Gefühlen jener jungen Jahre Ausdruck. Und auch der Tatsache, dass man eigentlich nicht so recht wusste, was mit grossen Gefühlen anzufangen war.
Anders als viele andere Alben jener Jahre überlebte "The Joshua Tree" in der Frogg'schen Sammlung sämtliche technischen Revolutionen der letzten zwei Jahrzehnte: Frau Frogg kupferte es erst vom Vinyl-Exemplar ihres Bruders auf Tonband ab. So hörte ich es in den kommenden Jahren hundertmal auf dem Walkman im Zug. Dann kaufte ich es irgendwann als CD. Es war auch in den Neunzigern noch nicht alt. Dann lag es eine Weile ungehört herum. Erst vor ein paar Monaten kopierte ich es als eine von drei ersten CDs auf meinen MP3-Player. Ich lag im Dunkeln, hörte ein paar Songs von den beiden anderen. Dann erklangen die ersten Takte von "Where The Streets Have No Name".
Ich bekam so heftiges Herzklopfen, dass mir die Rippen wehtaten.
Hier sitze ich und bin immer noch krank geschrieben. Ich könnte schreiben, schreiben, schreiben. Aber ich diesmal spiele ich zur Vorweihnachtszeit lieber ein bisschen Engel im Haus: Ich schenke den Zimmerpflanzen Aufmerksamkeit. Ich putze das Bad sorgfältiger als sonst. Ich bedaure ein bisschen, dass wir, wie stets, keine Tannzweige und keine Kerzli haben.
Für alle, die doch etwas lesen wollen, hier ein frogg'scher Weihnachts-Klassiker aus dem Jahr 2002.