20
Okt
2009

Grauenhaft komischer Roman

In Londoner Buchläden muss man ja immer drei Bücher für den Preis von zwei kaufen. So kam ich letztes Jahr zu diesem Titel. Er war das nachlässig ausgewählte Anhängsel zu einem Duo, das ich unbedingt wollte.

width=80% Auf deutsch heisst es "Caravan". Ich hatte nicht damit gerechnet, dass ich das Ding noch lesen würde. Aber letzte Woche wurde der Lesestoff in Frogg Hall krankheitsbedingt etwas knapp, und so machte ich mich schliesslich doch an des Werk der ukrainisch-stämmigen Engländerin Marina Lewycka. Ich war angenehm überrascht.

Lewycka macht eine romantische Komödie aus einem Thema, das wir eher in einem dokumentarisch gehaltenen Problemfilm erwarten: dem Schicksal von papierlosen Wanderarbeitern in Westeuropa. Die jungen Ukrainer Irina und Andryi lernen sich beim Erdbeerpflücken auf einem Feld in Kent, Südengland, kennen. Von dort aus setzen sie mit einem zugelaufenen Hund zu einer Reise gen Norden an.

In diesem Buch herrschen blanker Hunger und gezielte Fehlernährung. Da lauern an jeder Ecke Gauner, die nur darauf gewartet haben, mit ahnungslosen Immigranten ein profitables Geschäft zu machen. Da liest man von grauenhaften Zuständen auf einer Hühnerfarm. Der widerliche Mädchenhändler Vulk ist Irina auf den Fersen. Und die Erinnerungen der Protagonisten an die ukrainische Heimat sind alles andere als rosig. Und doch ist der Roman ungeheuer komisch.

Irina und Andryi treffen jede Menge Figuren - Migranten wie sie oder Einheimische. Alle haben keinen Schimmer darüber, wie es um die Welt rundum wirklich bestellt ist (Irina und Andryi zunächst auch nicht). Die Beschränktheiten jeder einzelnen Figur stellt Lewycka sprachlich brillant dar - bis hin zum Hund. So entsteht ein auf immer wieder verblüffende Weise ironisiertes Bild dieser schonungslos brutalen Welt.

Deutschsprachigen Kritikern gefiel das im allgemeinen. Die britische Kritik, schwarzem Humor gegenüber sonst ziemlich tolerant, gab sich zart besaitet. Man dürfe nicht in diesem leichten Ton über so schwere Themen schreiben, findet etwa der Guardian. Da mache sich jemand über die Schwächsten lustig, findet eine Kommentatorin auf amazon.com.

Ich sehe das anders: Man darf. Denn über Andryi und Irina lacht man bald nicht mehr. Sie beweisen Stehvermögen in widrigsten Umständen. Sie sind tapfer. Sie lernen. Die bleiben nicht als Figuren in Erinnerung, über die man lacht, weil sie naiv sind. Sie sind Figuren der Hoffnung.

Und übrigens: Eine ultrarealistische Abhandlung über die Zustände auf Hühnerfarmen hätte ich wahrscheinlich in meinem Zustand gar nie gelesen. Nach diesem Buch aber werde ich mir gut überlegen, welches Poulet ich nächstes Mal im Cööpli kaufe.

18
Okt
2009

Ich werde gesund!!!

Mitten in der Nacht auf gestern wachte ich vom sattsam bekannten Dröhnen im rechten Ohr auf. Ich geriet in Panik. Mein Ohrenarzt hatte mir zwar seine Handynummer gegeben. Aber wenn mein Ohr jetzt schon wieder dröhnte, dann hatte es gar keinen Sinn, ihn anzurufen: Dann hatte auch er nichts mehr in der Hand gegen die Taubheit. Denn das Dröhnen, ja, ich kenne es mittlerweile: Es ist der Vorbote, der monströse Begleiter, die hartnäckige Nachhut der Taubheit.

Ich schaffte es trotzdem, noch ein paar Stunden zu schlafen. Dann stand ich auf und dachte darüber nach, was ich tun sollte.

Und plötzlich wusste ich: Ich habe gar keine Alternative als gesund zu werden. Ich muss gesund werden, dachte ich. Was immer mich in dieses Schlamassel gebracht hat, es war ein Irrweg. Ich will gesund werden, und ich kann es durch nichts als meine eigenen Kräfte.

Ich setzte mich aufs Sofa und horchte. Von Sofa aus hörte ich den Kühlschrank - noch - heimelig surren, es ist ein dreistimmiges Surren, wir haben einen Electrolux IK 275. Die tiefste Stimmte gurgelte, ein schlechtes Zeichen. Ich sass da und zwang den tiefsten Ton des Kühlschranks zu mir her, mit schierer Willenskraft. Es ging. Aber es war sehr, sehr anstrengend.

Den ganzen Tag liess ich keinen anderen Gedanken zu als den: Ich will gesund werden. Ich hatte Besuch (danke, Veronika!), ich ging schnell ins Büro, ich schlief ein bisschen, ich hörte Musik, und ich dachte: Ich will gesund werden.

Es hat funktioniert. Ich höre. Bis jetzt.

Aber es braucht Kraft. Und es kann nicht schaden, wenn Ihr mir ein wenig die Daumen haltet, damit ich es weiter schaffe.

16
Okt
2009

Cortison, Sex, Rock'n'Roll

Wer krank ist, darf Dinge, die ein Gesunder nicht darf. Zum Beispiel tröstliche, aber etwas unbedarfte Bücher lesen. Solche, die ein gebildeter Mensch im Vollbesitz seiner Kräfte vielleicht nicht lesen würde. Trivialliteratur.

Wahrscheinlich darf man auch etwas befremdliche Musik hören, wenn man gerade krank geschrieben und mit Drogen wie Cortison vollgepumpt ist. Musik hören tue ich auf jeden Fall. Denn Kühlschränke und Abwaschmaschinen, so schön sie sind, reichen der Frogg im Moment nicht mehr. Nein. Zur Zeit denkt sie: Vielleicht wird meine Zeit zum Musikhören knapp. Also muss ich mir einen Vorrat anlegen. Unvergessliche Songs. Songs fürs Leben. Ich suche sie auf dem Internet und will sie eigentlich auf meinen neuen MP3-Player herunterladen.

Aber ich lasse mich ablenken und lande immer wieder auf irgendwelchen YouTube-Videos. Zum Beispiel auf diesem hier.



Ich habe es mir sicher schon dreimal angesehen - nebst einer Reihe anderer Videos von Zeppelin. Wie besessen. Ich verstehe mich selbst nicht mehr. Denn natürlich, in den achtziger Jahren liebte die Frogg Heavy Metal. Natürlich schüttelte sie damals im Fliegerschuppen im Vorort ihre schwarzbraun flackernde Mähne zu "Whole Lotta Love". Aber ein Song fürs Leben war das damals nicht, und heute bin ich für sowas eigentlich zu reif.

Warum also? Ja, klar. Das Ding ist schierer Sex, gut inszenierter Sex. So entdecke ich hier, was ich als Teenager verpasste, weil unsereiner ja die Sexgötter von anno dazumal noch nicht auf YouTube sehen konnte - sondern nur ausnahmsweise (falls es sie noch gab) in einem biederen Fernsehstudio. Ausserdem ist das Video ein ziemlich guter Mitschnitt von einem ziemlich guten Gig, das werden Kenner bestätigen.

Aber da ist noch etwas anderes, und schliesslich verstand ich es: Der Song ist basslastig. Und genau von den Bässen brauche ich einen Vorrat. Ich könnte die ganze Nacht lang Bässe hören. Sie streicheln mein Ohr. Sie geben mir Herzklopfen. (Damit Ihr Euch keine Sorgen macht: Natürlich höre ich das Zeug mit stark heruntergedrehtem Ton!)

Und noch etwas: Wenn dieses ekstatische Krächzen von Robert Plant den Raum zerschneidet, dann erinnere ich mich plötzlich, dass in meinem verängstigten Körper einmal eine verrückte, wütende, hungrige Seele steckte. Es muss doch möglich sein, sie wieder ins Leben zurückzulocken!

15
Okt
2009

Wie weiter?

Der Arzt hat mich noch einmal richtig mit Cortison vollgepumpt und krank geschrieben. Das Gehör auf dem rechten Ohr ist jetzt wieder fast voll da. Nur, wenn ich in meinem Zimmer sitze, dröhnt es noch leise.

Ich könnte mich in die Stube setzen und geniessen, dass ich die Abwaschmaschine in der Küche wieder leise vor sich hinplätschern und -summen höre. Aber so einfach ist es nicht.

Nichts ist mehr, wie es vorher war.

Ich bin unruhig. Ich habe Angst. ich bin hysterisch. Alles treibt mich zum Wahnsinn. "Wie soll das bloss weitergehen?" frage ich mich. Wie wird es weiter gehen?

Ach was. Die Situation ist unbeschreiblich. Ich glaube, ich versuche es gar nicht erst.

13
Okt
2009

Sie war blind

An Ostern lernte ich bei Freunden eine Frau kennen. Sie war so um die dreissig und vor wenigen Jahren vollständig erblindet. Wenn sie wissen wollte, wieviel Uhr es war, hörte sie ihr Handy ab. Wenn sie sich Cola einschenkte, streckte sie den Finger ins Glas. So vermied sie Überschwemmungen. Sie war aufgestellt, erzählte von den Skirennen, die sie fuhr, und scherzte mit den Kindern.

Wenn ich taub werde, dachte ich, dann werde ich so wie sie. Ich werde es akzeptieren. Ich werde mir zu helfen wissen. Ich werde aufgestellt sein. Auch wenn ich vielleicht nicht mehr mit Kindern scherzen kann.

Gestern Abend merkte ich, dass es an der Zeit war, diesen Vorsatz zu beherzigen.

Ich sass vor dem Fernseher und sah zu, wie fünf "Desperate Housewives" Abschied nahmen von Edie Britt, ihrer Nachbarin. Dem Biest.



Der Fernseher dröhnte. Ich war nicht aufgestellt. Mir flossen die ganze Sendung lang die Tränen übers Gesicht. Nicht wegen Edie. Ich nahm Abschied von meinem Gehör.

Dann telefoniert ich meinen zwei besten und ältesten Freunden. "Ich rufe Euch jetzt an, so lange ich noch kann", sagte ich. Das Dröhnen in meinem Ohr wogte gegen ihre Stimmen, als wolle es sie verschlucken.

Heute morgen geht es ein bisschen besser. Jetzt herrscht wieder das Prinzip Hoffnung.
logo

Journal einer Kussbereiten

User Status

Du bist nicht angemeldet.

Suche

 

Impressum

LeserInnen seit dem 28. Mai 2007

Technorati-Claim

Archiv

Mai 2025
Mo
Di
Mi
Do
Fr
Sa
So
 
 
 
 1 
 2 
 3 
 4 
 5 
 6 
 7 
 8 
 9 
10
11
12
13
14
15
16
17
18
19
20
21
22
23
24
25
26
27
28
29
30
31
 
 
 
 

Aktuelle Beiträge

Kommentar
Liebe Frau frogg, schauen Sie bitte bei WordPress...
Freni - 28. Nov, 20:21
Ein schreckliches Tal
Soglio im Bergell, Oktober 2013. Was habe ich Freunde...
diefrogg - 6. Okt, 20:27
Liebe Rosenherz
Danke für diesen Kommentar, eine sehr traurige Geschichte....
diefrogg - 11. Jan, 15:20
Ja, die selektive Wahrnehmung...
auch positives oder negatives Denken genannt. In den...
diefrogg - 9. Jan, 18:14
liebe frau frogg,
ein bisschen versuch ich es ja, mir alles widrige mit...
la-mamma - 5. Jan, 14:04

Status

Online seit 7533 Tagen
Zuletzt aktualisiert: 14. Apr, 12:45

Credits


10 Songs
an der tagblattstrasse
auf reisen
bei freunden
das bin ich
hören
im meniere-land
in den kinos
in den kneipen
in den laeden
in frogg hall
kaputter sozialstaat
kulinarische reisen
luzern, luzern
mein kleiner
offene Briefe
... weitere
Profil
Abmelden
Weblog abonnieren