23
Sep
2008

Zauberhafter Film

Herr T. wird bald 50. Zu seinem Geburtstag haben ihm Ella und ihr Freund, der Künstler, eine DVD geschenkt: Auf der anderen Seite von Fatih Akin. Die beiden wissen eben, dass wir uns immer noch in einer nur langsam abklingenden Phase der Türkei-Begeisterung befinden.

Eigentlich sollte man Geburtstagsgeschenke ja erst konsumieren, wenn der Geburtstag gefeiert ist. Aber schon gestern Abend, drei Tage vor Herrn T.s Geburtstag, konnten wir uns nicht mehr bremsen und haben uns den Film angesehen (Als Alternative für einen müden Abend stand nur Dr. House auf dem Programm - und der langweilt mich noch einmal zu Tode! Immer dasselbe Handlungsschema! Ich fürchte sehr, nicht einmal Dr. House selber hätte ein Heilmittel, sollte er mich mit der Langeweile, die er verbreitet einmal ins Spital befördern).

"Auf der anderen Seite" erwies sich als mehr denn brauchbarer Ersatz. Der Film ist zauberhaft.

Erst liess er sich ja so melancholisch an wie all jene Streifen, die Herr T. und ich etwas abfällig als deutsche, türkische oder polnische Problemfilme bezeichnen. Aber dann merkten wir: Das kleine Werk ist voll abgründiger Heiterkeit und voll grosser Tragik. Da brechen Familien auseinander. Da sterben junge Menschen. Da sucht einer der anderen und reist dafür über Hunderte von Kilometern. Dabei wäre der andere doch so nah, ja, in Sichtweite.

Und der Film hat den allerbesten offenen Schluss, den ich je gesehen habe. Genau im richtigen Moment setzt Held Nejat sich ans Ufer des Schwarzen Meeres und beginnt auf seinen Vater zu warten, der da draussen am Fischen ist. Ab jetzt kann alles geschehen: Es kann noch mehr Tote geben. Wieder können Menschen einander um Haaresbreite verpassen. Oder es kommt endlich zur Versöhnung kommen, zum Ende der Sucherei. Wir erfahren es nicht. Wir müssen es uns selber ausdenken, und das ist wunderbar.

Hier eine kleine Kostprobe (leider gewichtet sie das Problemfilmhafte an dem Werk zu stark, lasst Euch also nicht abschrecken):

20
Sep
2008

Phantastischer Roman

Die Frogg verschlingt gerade den besten Roman, der ihr dieses Jahr zwischen die Finger gekommen ist Arthur & George von Julian Barnes. Deshalb mein langes Schweigen hier, für das ich um Verständnis bitte. Glücklicherweise ist der Schinken 505 Seiten fett, so dass ich auch morgen noch einen Rest habe, den ich mir einverleiben kann.

Wenn ich sage, "Arthur & George" sei ein phantastischer Roman, so will ich damit lediglich meine Begeisterung für das Buch zum Ausdruck bringen. Ich will nicht etwa glauben machen, es kämen darin weisse Einhörner, Hexen mit eisigen Herzen oder boshafte Zwerge vor. Nein. Das Buch erzählt von zwei Personen, die tatsächlich existiert haben: von George Edalji und Arthur Conan Doyle.

Barnes erfindet die Geschichte der beiden von Kindsbeinen an neu. Er bleibt dabei nahe bei der Realität und schreibt doch Fiktion im besten Sinne. Er lässt die Leser in die Haut der beiden schlüpfen. Bis sie selber für ein paar Stunden in Arthur Conan Doyle's kompliziertem Ehedreieck stecken - oder mit George Edalji im Gefängnis hocken. Edalji, der indischer Herkunft ist, wird nämlich angeklagt, Pferde verstümmelt zu haben - ein Justizirrtum aus Rassismus. Mit wie viel selbstauferlegter Gleichmut Edalji sein Schicksal meistert, zeigt Barnes mitfühlend und analytisch zugleich. Wie bigott, selbstgerecht und doch auch hübsch ländlich die Gesellschaft in seinem Great Wyreley ist, schildert er meisterhaft und mit einer Prise subtiler Ironie.

Es dauert etwa 300 Seiten, bis sich die beiden Helden des Buches zum ersten Mal begegnen und die Charakterstudie, das Sittengemälde, zum Krimi wird. Und doch möchte man keine Seite bis zu dieser Stelle missen. Zu dem Treffen kommt es schliesslich, als George sich mit einem Bittbrief an den Erfinder von Sherlock Holmes wendet. Doyle, soeben Witwer geworden und auf der verzweifelten Suche nach einem Fluchtweg aus seiner inneren Leere, kommt der Bitte nach. Er beginnt einen erbitterten Kampf gegen die Englische Gerichtbarkeit.

Den führt er in meiner Lektüre immer noch. Deshalb, sorry, Freunde: Ich muss weiter lesen.

17
Sep
2008

Alles halb so schlimm!

"Keine Sorge", sagt Kollege Marlowe Tree , nachdem er gestern Abend eine Viertelstunde lang gebannt auf die Tagesschau mit den Neuigkeiten von der Börse gestarrt und immer wieder "Wahnsinn!... Wahnsinn!" gerufen hat.

Marlowe Tree ist Jurist, Ex-Kripomann und Experte für Steuerfragen. Eigentlich habe ich ihn besucht, um mir bei ihm Ratschläge für meinen Krimi zu holen. Aber nach einer Flasche Wein packt er die erste sich bietende Gelegenheit und kommt endlich auf das Thema zu sprechen, über das er schon den halben Abend lang mit mir reden will: die eklatanten Steuerunterschiede in den verschiedenen Kantonen der Schweiz (mit besonderer Vertiefung der Themen "Steueroasen" und "Steuerflüchtlinge aus Deutschland").

Die Frogg hat sich früher nie für Geld interessiert. Schon gar nicht für Steuern. Steuern zahlt man, basta. Mit der Höhe von Steuern beschäftigen sich nur Biederlinge und Räppliumdreher. Aber in letzter Zeit hat sich einiges geändert. Und mit Tree zu reden, ist besonders spannend. Denn der Mann kann reden. Aus seinem Mund klingen sogar Erörterungen über die unterschiedlichen Steuerpraktiken von Bund und Kantonen wie ein Krimi.

Erst am Ende des Abends kommen wir wieder auf die Wirtschaftskrise zu sprechen. "Und jetzt sag, was Du von der Sache hältst", sage ich, "Müssen wir uns jetzt Sorgen machen, dass wir nächstes Jahr um diese Zeit vor der Suppenküche Schlange stehen? Dass unsere Arbeitsplätze hops und unsere Ersparnisse flöten gehen?"

Marlowe Tree wägt ab, führt ein paar Dafürs und Dawiders aus und kommt dann zum Schluss: "... aber sonst ist das ganz ein normaler Wirtschaftszyklus. Nein, nein! Du wirst sehen: Bis 2013 sind wir wieder oben! Wirklich: keine Sorge!"

15
Sep
2008

Schwarzer Montag

Die Kollegen im Newsroom nebenan werfen mit den Schlagzeilen von der Börse um sich. "Uiuiui! Der SMI stürzt um 19 Prozent!" oder so ähnlich klingt es von drüben und dann wieder "Wall Street!" Und dann: "Uiii! Senkrecht!" Sie haben diesen unbeschwerten, leicht überdrehten Ton. Wenn sie den anschlagen, weiss Frau Frogg, dass es ernst ist.

Kalter September

Es ist kalt in unserer Wohnung, denn es ist nun mal so: Frogg Hall hat alle Stärken und alle Schwächen einer Dachwohnung. Im Sommer würde sie sich anfühlen wie Sahara pur, wenn Herr T. nicht ein rigoroses Lüft- und Verdunkelunssystem eingeführt hätte. Kaum macht der Herbst sich aber mit einem ersten Temperatursturz bemerkbar, passt Frogg Hall sich in vorauseilendem Gehorsam an und begrüsst uns beim Nachhausekommen mit frösteligen Temperaturen. Auch wenn wir nicht vergessen, die Fenster rechtzeitig zu schliessen.

Dieses Jahr ist es noch schlimmer als sonst.

Ich fürchte, daran ist Herr Imobersteg schuld. Er ist verantwortlich für die Zentralheizung des ganzen Quartiers. Und er ist ein Meisterheizer, Feinmechaniker von Beruf, Heizmeister aus Berufung. Ich habe einmal gesehen, wie Herr Imobersteg die Temperaturregler an den Heizkörpern unserer Wohnung berührte: mit einer Zärtlichkeit, die mich plumpe Tastenhauerin aufrichtig beschämte.

Sicher beobachtet Herr Imobersteg die Ölpreise mit genausoviel Liebe wie die Temperaturregler, Schräubchen und Öschen seiner Heizung. Ich fürchte, die hohen Ölpreise im Sommer haben in ihm eine hitzige Sparwut geweckt. Ich habe den Eindruck, er hat irgendeinen Thermostat tiefer gestellt, so dass es kälter werden muss, bis die Heizung überhaupt anspringt. Jedenfalls friere ich abends und morgens. Auch wenn die Heizung mittlerweile zwischen sieben und zehn jeweils lauwarm wird.

Zum Trost packe ich mich morgens in meinen zitronengelben Bademantel, ziehe die warmen Pantoffeln an und trinke Tee. English Breakfast Tea. Es ist guter Tee, Marke Harrods. Er duftet nicht nur nach Tee, nein, er riecht nach England an einem kalten Morgen. Nach England vor zwanzig Jahren. Nach den verrussten Holzschwellen uralter Diesel-Eisenbahnlinien. Nass nassen, kurvenreichen Landsträsschen. Nach klammen Brombeerhecken, die von der Morgensonne langsam warmgeleckt werden.

Um mich zu trösten, denke ich: In England ist es manchmal sogar im Sommer so kalt. Naja, vielleicht nicht gerade in England. Aber doch in Schottland.

Und wenn das auch nichts hilft, denke ich an Russland. Russland im Sepember. Eine Wohltat für die Liebhaber extremer Temperaturen. Tagsüber kann das Thermometer bis 30 Grad klettern (oder aber bei Regen und plus vier Grad den ganzen Tag unentschlossen hängen bleiben). Nachts fällt es unter den Gefrierpunkt, und die meisten Russen haben nichts als ein paar Wolldecken, um sich vor solchen Extremen zu schützen. Denn geheizt wird nicht im September in Russland. Nicht doch. Dort dürfen die Heizmeister erst am 15. Oktober in Aktion treten. Wer will denn im Sommerhalbjahr heizen?

So war das jedenfalls vor neun Jahren, als ich in Russland war. So schlimm ist es mit Herrn Imobersteg zum Glück nicht.

Und sollte es noch schlimmer werden, so stelle ich fest: Die Finger wärmt man sich am besten mit Tee und Fernweh.

12
Sep
2008

Schwacher Gerritsen-Krimi

Neulich habe ich gesehen, dass spiegel.de auffallend grosse Werbung für Leichenraub macht, den neuen Krimi von Tess Gerritsen. Tatsächlich ist der Name Gerritsen Garantie für Krimiliteratur, die mit Sachkenntnis über Pathologie zu packen weiss. Und ihre Plots erreichen jeweils vor lauter Rasanz fast schon Überschallgeschwindigkeit. "Leichenraub" aber bietet plotmässig wenig als nervöses Gehetze.

Empfehlen kann ich höchstens die Lektüre der ersten 40 bis 50 Seiten. Auf ihnen nimmt sich Gerritsen einer Frage an, an dem sich schon zahllose werdende Mütter mehr oder weniger wohlig gegruselt haben mögen: Wie kamen Babies zur Welt, als die moderne Medizin noch in den Kinderschuhen steckte? Ohne Fachlatein, aber kundig und hoch emotional schildert Gerritsen, was das Kindbettfieber in einem Bostoner Spital des frühen 19. Jahrhunderts anrichtet (nichts für zarte Gemüter).

Die Haupthandlung des Buches aber ist in der Gegenwart angelegt: Die Heldin findet im Garten ihres neuen Hauses ein Skelett. Irgendwie stehen die Knochen im Zusammenhang mit den Geschehnissen rund um zwei Ärzte in der Vergangenheit. Sie haben herausgefunden, wie man das grassierende Kindbettfieber aus den Spitälern vertreiben könnte: mit mehr Hygiene. Eine Idee, die die amtierenden Oberärzte erst lächerlich, dann zusehends bedrohlich finden.

Eine an sich spannende Ausgangslage. Doch je länger die Lektüre dauert, desto mehr zerfallen der Plot der Gegenwart und jener der Vergangenheit. Gerritsen zieht noch die unplausibelsten Entwicklungen an den Haaren herbei, um etwas Spannung zu erzeugen. Heldin wird ein Mädchen aus der Unterschicht, das schliesslich ganz nach oben heiratet - eine höchst unwahrscheinliche Entwicklung, was Gerritsen aber nicht zu merken scheint. Und die moderne Heldin reift an ihrem Beispiel durchaus. Aber nicht so, wie sie es laut Madame Frogg sollte.

Es kann nicht gut bestellt sein um das Sortiment des Limes Verlags, wenn er mit diesem Buch eine so kostspielige Werbekampagne bestreitet!
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Journal einer Kussbereiten

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