12
Nov
2004

Yassir Arafat und das Unwort des Jahres 2004

P. S: Fast hätte ich neulich unbedacht geschrieben: Yassir Arafat ist die Ikone des Nahost-Konflikts. Auf Wikipedia fand ich sogar eine annähernd brauchbare Definition des Begriffs Ikone. Ein Blick auf Google belehrte mich aber auch darüber, dass Adolf Hitler die Pop-Ikone gewisser Kreise sei; dass Udo Jürgens eine Ikone der Unterhaltungsmusik ist und Helmut Kohl eine Werbe-Ikone für Frankreichs Gay-Channel.

Mittlerweile scheint mir der Begriff «Ikone» in so inflationärem medialem Gebrauch, dass ich geneigt bin, ihn zum Frogg'schen Unwort des Jahres 2004 zu erklären.

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Ihr seht schon: Die öffentlichen Diskussionen der letzten paar Jahre scheinen mir etwas eintönig. Höchste Zeit wenigstes für ein neues Unwort.

4
Nov
2004

Dieser Mann bedeutet Ärger seit ich mich erinnern kann

Yassir Arafat ist tot – naja, fast jedenfalls. Also, ich habe ja gar nie angefangen, mich für die Details des Krieges im Nahen Osten zu interessieren. Trotzdem: Der Name steht in Verbindung mit diesem Krieg, seit ich mich erinnern kann. Und das ist ganz schön lange. Wird sich jetzt etwas ändern? Wird es jetzt ein Aufatmen geben wenigstens für einen Ort auf der Welt?

«Nichts wird sich ändern», soll Stefan Wuhr-Roselli gesagt haben, der Nahost-Spezialist des Fröscher Tagblatts. Das erzählte man sich heute abend vor dem Nachhausegehen in den Gängen. Wuhr-Roselli wird schreiben: «Die Israelis sind an allem Schuld.» Oder so ähnlich

Schade, dass sich nichts ändern wird.

2
Nov
2004

Barfuss in Venedig

Venedig ist eine stille Stadt. Ab und zu hört man ein Motorboot durch einen Kanal tuckern. Hier und dort ein paar Touristen reden oder lachen. Aber sonst? Es gibt hier keinen Autolärm, und das merkt man.

Auch als Venedig am Sonntag Morgen nach einer Regennacht wieder einmal überschwemmt wurde, war es still. Still strömte das Wasser die Gassen herauf, floss über Türschwellen, füllte geräuschlos die Eingangshallen der Palazzi am Canal Grande.

Das heisst – später sagte Lotta: «Jetzt weiss ich, wieso vor dem Frühstück die Sirenen losgingen.» Ja. Die Sirenen. Auch die Frogg hatte sie gehört. Aber es waren müde Sirenen gewesen. Mit einem nicht annähernd so angstvollen Unterton wie jene, die die Behörden in der Schweiz einmal pro Jahr an einem Mittwoch testen. Der venezianische Alarm hatte auch kein Geläuf im Korridor des Hotels ausgelöst, nichts als Stille folgte ihm. Und so hatten die Touristinnen Lotta und Philemon sie ebenso still vergessen.

Dass Venedig überschwemmt wird, war für Lotta und die Frogg längst nichts Neues mehr. Vier Nächte hatten die beiden in Venedig verbracht, und jeden Morgen hatte das Wasser ein paar Stunden bis zur Türschwelle ihres Hotels in Dorsaduoro gereicht. Um es trockenen Fusses zu verlassen, mussten sie jeweils die Hintertür benutzen. Aber an jenem Morgen stieg das Wasser auch in die Gasse zum Hintereingang.

Was tun an einem Sonntag Morgen kurz vor der Heimreise? Die Schuhe ausziehen, beschlossen beide einigem Hin und Her. Sie wollten die Sammlung Guggenheim besuchen. «What we do for art!» lachte eine amerikanische Touristin. Sie war ebenfalls auf dem Weg zur Galerie und zog sich ebenfalls gerade die Schuhe aus. Aber Philemon zog Schuhe und fleckenweise feuchte Socken nicht für die Kunst aus. Krempelte ihre Hose nicht für Max Ernst und Paul Klee hoch. Nein. Sie sagte sich: «Soll man in einer solchen Lebenslage im Hotel sitzen und warten, bis einem das Wasser um die Füsse plätschert? Nicht doch. Man hat für die Reise bezahlt und will auch etwas davon haben!» So watete sie zur Sammlung Guggenheim. Dort war sie kurz vor zehn Uhr, und stand wadentief im Wasser. Wie rund 20 andere Touristen wartete sie auf die Türoffnung. Alle waren barfuss, trugen Gummistiefeln oder abenteuerlichen Plastikbauten um Füsse und Beine. Wenn das nicht surreal ist!

Als sie sich auf den Rückweg machte, stand das Wasser schon im Innenhof der Galerie. «Höher kommt es nicht mehr!» versicherten ein paar junge Museumsangestellte am Eingang. Auf dem Rückweg ins Hotel überall Bilder wie diese.





Sie habe eine Ratte schwimmen gesehen, erzählte Lotta, die später zurückkam. Das ist Philemon zum Glück erspart geblieben. Nichts ekelt Philemon wie Ratten. Sie hat in einer Kanalecke einen silbernen Fisch im Sprung aufblitzen sehen. Auf den Fluten schwammen Herbstblätter und hier und dort ein paar fettige Schlieren. Aber sie sah weder Abfälle, noch Schlamm, noch Hundekot.

Wieder im Hotel holten die beiden ihre Taschen aus dem Gepäckraum. Auch dort stand das Wasser knöcheltief. Zum Glück hatten beide ihr Gepäck auf ein Gestell gelegt.

Scharen von Touristen drängelten ins Boot zum Bahnhof. Horden vorn Touristen waren über Venedig hergefallen, weil Allerheiligen ein langes Wochenende verursachte. Vorne in der Kabine stand ungerührt der Kapitän. Er trug Haare und Mantel lang und stand mit beiden Beinen fest auf seinen Planken. Ein Nachfahr der grossen venezianischen Seemänner.

An den Fenstern des Canal Grande hingen Touristentrüppchen mit langen Gesichtern und warteten auf bessere Zeiten. Am Eingang der Dali-Ausstellung wartete eine weitere Schlange von Kunstfreunden im Wasser. Ein ganzes Touristenheer stand auf dem Bahnhof-Vorplatz, einem der wenigen trockenen Plätze der Stadt. Trauben von Touristen drängten ins Bahnhofbuffet.

Auf dem Weg zum Zug sagte Lotta: «Jetzt werden wir uns wieder an den Strassenlärm zu Hause gewöhnen müssen.»

Aber so war es nicht, stellte die Frogg fest, als sie zu Hause ankam. Der Strassenlärm scheint so selbstverständlich zu Frösch zu gehören wie die Fluten zu Venedig.

19
Okt
2004

Wer ist eigentlich Herr Tiger?

Werdet Ihr Euch nach der Lektüre meines letzten Eintrags fragen. Ja, das habe ich mich auch gefragt, als ich heute wie bestellt und nicht abgeholt im Fröscher Kunstmuseum stand und mich die Frau an der Kasse fragte: «Möchten Sie ein Billett kaufen?»

«Noch nicht», sagte ich, «ich warte auf meinen...äh...»

«...Freund?» zu jugendlich
«...Mann?» gelogen, wir sind nicht verheiratet
«...Partner?» schauder!
«...Lebensabschnittspartner?» schauder!!!
«...Geliebten?» Aber ich bitte Euch!

Also, um es kurz zu machen: Er ist der Mann, mit dem ich seit dreienhalb Jahren meine Wohnung teile; morgens die Zeitungen; abends die Fernbedienung für den Fernseher; oft genug das Bett; bestimmte Vorlieben beim Theater- und Kinobesuch (andere nicht); der meine Freunde mag und ich seine; der mich zum Lachen bringt (manchmal); dem ich die Wohnung putze; der mich rundlich gekocht hat.

Das ist Herr Tiger

Und die Ausstellung, die wir besucht haben? Eine mit Arbeiten von Gerhard Richter

18
Okt
2004

Volkes Gelärm, Volkes Gestank

Die Zeiten sind schlecht. Am besten hört man das bei so genannten Randständigen. Bei den geistig Behinderten. Den psychisch Instabilen. Den Alkis. Den alten Männern, die niemand mehr will. Den Leuten, die samstags auf öffentlichen Plätzen herumhängen. In der Bahnhof-Schalterhalle zum Beispiel. Dort war ich am Samstag, um mir ein Billett nach Venedig zu besorgen.

Kaum stehe ich in Warteposition, kommt ein Alter näher. Kalkweiss, hager, stoppelbärtig. «Das Billett ist teurer», sagt er zu mir. Irrer Blick. Die Frogg will ihn nichts sehen. Sie guckt schnell in die andere Richtung, da sucht er ein anderes Opfer, murmelt halblaut und lärmt dazwischen alle paar Sekunden: «Wird alles immer teurer!» Oder: «Das müssen alles wir zahlen, immer mehr!» Groteske Fleischwerdung des Geistes, der auch in den Korridoren des Fröscher Tagblatts herrscht. Steuerrappenspalter, die Kollegen. Geprellte Mittelständler, arme Kerle mit ihren Einfamilienhäuschen, ihren Zivilpänzerli*, ihren vollen Migros-Einkaufwägeli. Wir, der geprellte Mittelstand, «alles wird immer teurer», unser Refrain, der Protestsong der frühen Zehnerjahre im neuen Jahrtausend, klingt gut informiert und kommt an.

Scheint auch der Mann mit dem Stoppelbart zu denken und setzt auf die Parole, um einen Gesprächspartner zu finden. «Wird alles immer teurer!» schreit er einen, der beim Infogestell steht, an. Wettert irgend etwas über immer teurere Autos. Als ob er kürzlich auch gerade ein Zivilpänzerli habe kaufen wollen. Der Kunde weiter drüben sagt: «Mir ist egal, ob Autos immer teuer werden. Ich habe kein Auto, und jetzt fährt gleich mein Zug!» und geht. Da nimmt der Irree die Frau am Schalter dran. «Wir alles immer teuerer», lärmt er mir über die Schulter. Sie sagt: «Bitte warten Sie, ich bin am Bedienen.»

Als der Irre endlich dran ist, kaufte er ein Billet nach Basel. Halbtax. Wahrscheinlich Verwandte besuchen. Die Angestellte hätte ihn wegschicken müssen, weil sie an ihrem Schalter an sich nur Fahrkarten ins Ausland verkauft. Aber sie nahm ihn, auf dass er endlich Ruhe gäbe, sein Geschäft erledige und die Leute woanders belästige als in der Schalterhalle des Fröscher Bahnhofs.

Man kann sich vorstellen, was die Verwandten in Zürich ihm den ganzen Tag erzählen werden. Wahrscheinlich, dass sie für alles immer mehr zahlen müssen. Und er wird dasselbe zurücklärmen. Eine fröhliche Runde.

Meine Karte nach Venedig ist ein echtes Schnäppchen. Nur 70 Franken retour.

Versteht mich bitte richtig! Ich will hier nicht über Schwache lästern. Der «für alles müssen wir mehr bezahlen»-Mann ist ist ein Opfer des Zeitgeistes. Er betet nur nach, was andere ihm vorbeten. Er hofft, damit das zu bekommen, was das Leben ihm ständig vorenthält: Aufmerksamkeit und Anerkennung. Dass gerade die würdige Behandlung von seinesgleichen etwas vom ersten ist, was den echten «alles wird immer zu teuer»-Typen wirklich zu teuer wird, ahnt er höchstens.

Bei der Bushaltestelle Denkmalplatz dringt schon wieder Altmännergelärm an Philemon Frogg's empfindsames Ohr. «...rauchfreie Schweiz! So ein Blödsinn!» brüllt einer auf der Wartebank ein paar Hausfrauen an, die mit ihren vollen Einkaufstaschen in der Nähe stehen. «Aber was die da vorne für einen Gestank rauslassen, hat sich noch nie einer überlegt!» Er wedelt mit der Hand Richtung Verkehr, der über den Platz braust. Dann lärmt er weiter: «Hören Sie, ich rauche schon seit 60 Jahren dieselbe Marke!» und zückt ein Exemplar seiner Marke, eine fette, braune Zigarre. Als er den Stumpen angezündet hat, ist er schnell mutterseelenallein.

Auch allein noch ruft der Alte weiter über den Unsinn von Rauchverboten aus. Er wird erst ruhiger, als sich eine ausgemergelte Frau mit Zigarette im Mund zu ihm setzt als wäre das die gemütlichste Sache der Welt und sagt: «Ah, Sie rauchen ja auch!»

Aber die Ausgemergelte steigt in denselben Bus wie ich. Als ich abfahre, sehe ich noch, wie der Alte schon wieder gierig nach einem Gesprächspartner linst.

Als ich jung war, drehte ein so genannt Randständiger barfuss vor dem Bahnhofeingang seine Kreise. Er sah aus wie ein Hippie. Ein anderer ging mit Plakaten voller sozialkritischer Sprüche an der Bushaltestelle Viktoriaplatz auf und ab und krakeelte über das Philistertum der Gesellschaft. Als ich jung war, waren die sozial Auffällige Poeten, gescheiterte Freidenker oder verkannte Genies. Alle gestorben oder still geworden.

Heute sind sie alle politisiert. Bürgerlich. Das kann ja heiter werden.

* Zivilpänzerli: Herr Tigers Bezeichnung für Offroader.
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