18
Okt
2004

Volkes Gelärm, Volkes Gestank

Die Zeiten sind schlecht. Am besten hört man das bei so genannten Randständigen. Bei den geistig Behinderten. Den psychisch Instabilen. Den Alkis. Den alten Männern, die niemand mehr will. Den Leuten, die samstags auf öffentlichen Plätzen herumhängen. In der Bahnhof-Schalterhalle zum Beispiel. Dort war ich am Samstag, um mir ein Billett nach Venedig zu besorgen.

Kaum stehe ich in Warteposition, kommt ein Alter näher. Kalkweiss, hager, stoppelbärtig. «Das Billett ist teurer», sagt er zu mir. Irrer Blick. Die Frogg will ihn nichts sehen. Sie guckt schnell in die andere Richtung, da sucht er ein anderes Opfer, murmelt halblaut und lärmt dazwischen alle paar Sekunden: «Wird alles immer teurer!» Oder: «Das müssen alles wir zahlen, immer mehr!» Groteske Fleischwerdung des Geistes, der auch in den Korridoren des Fröscher Tagblatts herrscht. Steuerrappenspalter, die Kollegen. Geprellte Mittelständler, arme Kerle mit ihren Einfamilienhäuschen, ihren Zivilpänzerli*, ihren vollen Migros-Einkaufwägeli. Wir, der geprellte Mittelstand, «alles wird immer teurer», unser Refrain, der Protestsong der frühen Zehnerjahre im neuen Jahrtausend, klingt gut informiert und kommt an.

Scheint auch der Mann mit dem Stoppelbart zu denken und setzt auf die Parole, um einen Gesprächspartner zu finden. «Wird alles immer teurer!» schreit er einen, der beim Infogestell steht, an. Wettert irgend etwas über immer teurere Autos. Als ob er kürzlich auch gerade ein Zivilpänzerli habe kaufen wollen. Der Kunde weiter drüben sagt: «Mir ist egal, ob Autos immer teuer werden. Ich habe kein Auto, und jetzt fährt gleich mein Zug!» und geht. Da nimmt der Irree die Frau am Schalter dran. «Wir alles immer teuerer», lärmt er mir über die Schulter. Sie sagt: «Bitte warten Sie, ich bin am Bedienen.»

Als der Irre endlich dran ist, kaufte er ein Billet nach Basel. Halbtax. Wahrscheinlich Verwandte besuchen. Die Angestellte hätte ihn wegschicken müssen, weil sie an ihrem Schalter an sich nur Fahrkarten ins Ausland verkauft. Aber sie nahm ihn, auf dass er endlich Ruhe gäbe, sein Geschäft erledige und die Leute woanders belästige als in der Schalterhalle des Fröscher Bahnhofs.

Man kann sich vorstellen, was die Verwandten in Zürich ihm den ganzen Tag erzählen werden. Wahrscheinlich, dass sie für alles immer mehr zahlen müssen. Und er wird dasselbe zurücklärmen. Eine fröhliche Runde.

Meine Karte nach Venedig ist ein echtes Schnäppchen. Nur 70 Franken retour.

Versteht mich bitte richtig! Ich will hier nicht über Schwache lästern. Der «für alles müssen wir mehr bezahlen»-Mann ist ist ein Opfer des Zeitgeistes. Er betet nur nach, was andere ihm vorbeten. Er hofft, damit das zu bekommen, was das Leben ihm ständig vorenthält: Aufmerksamkeit und Anerkennung. Dass gerade die würdige Behandlung von seinesgleichen etwas vom ersten ist, was den echten «alles wird immer zu teuer»-Typen wirklich zu teuer wird, ahnt er höchstens.

Bei der Bushaltestelle Denkmalplatz dringt schon wieder Altmännergelärm an Philemon Frogg's empfindsames Ohr. «...rauchfreie Schweiz! So ein Blödsinn!» brüllt einer auf der Wartebank ein paar Hausfrauen an, die mit ihren vollen Einkaufstaschen in der Nähe stehen. «Aber was die da vorne für einen Gestank rauslassen, hat sich noch nie einer überlegt!» Er wedelt mit der Hand Richtung Verkehr, der über den Platz braust. Dann lärmt er weiter: «Hören Sie, ich rauche schon seit 60 Jahren dieselbe Marke!» und zückt ein Exemplar seiner Marke, eine fette, braune Zigarre. Als er den Stumpen angezündet hat, ist er schnell mutterseelenallein.

Auch allein noch ruft der Alte weiter über den Unsinn von Rauchverboten aus. Er wird erst ruhiger, als sich eine ausgemergelte Frau mit Zigarette im Mund zu ihm setzt als wäre das die gemütlichste Sache der Welt und sagt: «Ah, Sie rauchen ja auch!»

Aber die Ausgemergelte steigt in denselben Bus wie ich. Als ich abfahre, sehe ich noch, wie der Alte schon wieder gierig nach einem Gesprächspartner linst.

Als ich jung war, drehte ein so genannt Randständiger barfuss vor dem Bahnhofeingang seine Kreise. Er sah aus wie ein Hippie. Ein anderer ging mit Plakaten voller sozialkritischer Sprüche an der Bushaltestelle Viktoriaplatz auf und ab und krakeelte über das Philistertum der Gesellschaft. Als ich jung war, waren die sozial Auffällige Poeten, gescheiterte Freidenker oder verkannte Genies. Alle gestorben oder still geworden.

Heute sind sie alle politisiert. Bürgerlich. Das kann ja heiter werden.

* Zivilpänzerli: Herr Tigers Bezeichnung für Offroader.
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