3
Dez
2010

Nadj Abonji

Dieses Buch habe ich aus dem selben Grund gekauft wie viele, viele andere Leser: Weil es die Antwort der Literatur auf rechtsnationale Parolen über Migration ist. Weil es für preiswürdig befunden wurde. Weil die Autorin weiss, wovon sie schreibt. Melinda Nadj Abonji hat selber einen so genannten Migrations-Hintergrund. Ihr Buch zu lesen ist gleichsam ein politischer Akt.

Viele kaufen es. Das Buch ist seit einem Wochen auf Platz 1 der Bestseller-Listen. Es gibt einer so genannten Seconda namens Ildi Kocsis eine Stimme. Es schafft Verständnis für Scharen von Leuten, die in unserem Land aufgewachsen sind und bislang keine laute literarische Stimme hatten. Jeder sollte es lesen.

Auch wenn ich selber erst auf den letzten Seiten mit dem Buch wirklich warm geworden bin. Die Sprache finde ich weit gehend in Ordnung. Die Umstandskrämerei, die mich oft an deutschsprachiger Literatur stört, lasse ich ihr durch. Denn da und dort findet sie wirklich starke Bilder.

"Aber warum", dachte ich, "warum erzählt uns diese Frau auf den ersten Seiten ihres Buches pausenlos von einer Allee, einer Ebene, von der Luft zwischen Bäumen?" Ich meine: Bäume, Luft, eine Ebene, das ist schön und poetisch. Aber es entwickelt nicht gerade die Spannung, die mich gierig in einen Roman hineinbeissen lässt.

Erst nach ganz passablen 240 Seiten bekomme ich eine Antwort. Endlich. Denn auf Seite 241 serviert Ildi im Café ihrer Eltern am Zürichsee. Dabei hört sie sich das unbedarfte Geschwätz von ein paar Rentnern über den Jugoslawien-Krieg an - den Krieg, der gerade in der Heimat ihrer Eltern stattfindet. Sie soll über diese Heimat berichten, sagen die Rentner. Doch Ildi sagt, sie habe keine Zeit. Denn die Rentner wollten wohl nichts "über die Luft zwischen den majestätischen Pappeln und Akazien, die winzigen Blumen, die zwischen den Pflastersteinen wachsen, den Staub, den Dreck, über Béla" hören. Aha. Die ersten Seiten bringen also auf den Punkt, was Heimat für Ildi ist: Bilder, Stimmungen, die Luft zwischen den Bäumen eben.

Die Erklärung kommt spät, aber ich kann beipflichten. Die Frage "was ist Heimat" ist relevant. Und Ildis Antwort öffnet Raum für Interpretationen. Ist diese Allee, diese Ebene nur eine Erinnerung? Oder steht die grosse Weite der Vojvodina im Gegensatz zur jener Enge, die ja in der Literatur typischer Charakterzug der Schweiz ist?

Überhaupt, die Schweiz. Das Buch ist am stärksten dort, wo die junge Ildi ihrer Wut über die Schweiz und die Schweizer freien Lauf lässt. Ildi hat noch mehr Anlässe wütend zu sein als die Schweizer Jugendlichen jeder heranwachsenden Generation. Ihre Familie lässt das Prozedere einer Einbürgerung über sich ergehen, und Ildi empfindet es als Demütigung. Irgendjemand schmiert Scheisse an die Toilettenwände im Café ihrer Eltern. Ildi interpretiert es als Geste der Fremdenfeindlichkeit.

Aber sie wird erwachsen in diesem Land. Und sie wird nicht erwachsen wie die Vojvodina-Ungarin als die sie geboren ist. Sondern ausdrücklich wie eine Schweizerin.
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Journal einer Kussbereiten

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