12
Nov
2008

Cortison-Rausch

Am letzten Donnerstag hatte ich einen schweren Schwindelanfall am Arbeitsplatz. Etwa eine Stunde lang testete ich mit dem Hinterkopf die Beschaffenheit der Spannteppiche in unserem neuen Grossraumbüro. Rundum drehten sich Lampen und Tische, mal sacht, mal wütend. Die Frogg kämpfte gegen einen schier unbesiegbaren Brechreiz. Ein kleiner Erfolg an einem schwierigen Abend.

Es war kurz vor Feierabend. Ein Kollege fuhr mich schliesslich nach Hause.

Das alles ist nichts Neues. Gehört halt dazu. Danach aber reagierte ich anders als sonst. Ich versuchte, dem Schwindel mit einer Cortisonbombe Herr zu werden, denn hektische Tage standen bevor. Ich hatte keine Zeit herumzuliegen.

Die hektischen Tage kamen und gingen. Das Cortison wirkte, wenn auch schwach. Nebenwirkungen? Erstaunlich wenige.

Bis gestern. Gestern hatte die Frogg frei. Sie war schon beim Aufstehen schwer wie ein alter Mehlsack und merkwürdig verstört.

Dennoch schleppte ich mich in die Stadt. Ich musste einkaufen. Leiser Schwindel drohte mir auf dem Weg den Boden unter den Füssen wegzuziehen, aber ich stand. Ich ging. Wenn auch langsam. "Du bist bleich", sagte eine Bekannte, die ich auf dem Weg traf.

Irgendwann fand sich die Frogg in einem Warenhaus wieder. Sie brauchte Lippenstift. Heute. Sie brauchte jetzt diesen verdammten dunkelroten Lippenstift, den besten, den es je gegeben hat. Ersatz für das gute Stück, das nach mindestens fünf verdienstreichen Jahren letztes Wochenende den Geist aufgegeben hat. Sie brauchte jenen Lippenstift, dessen Bordeauxrot fast, aber nur fast, ins Braune kippt. Oder vielleicht auch ins Violette. Aber es kippt eben nicht, sondern bleibt bordeauxrot, genau richtig, das ist das Gute daran.

Sie suchte vergeblich. Sogar die Marke schien verschwunden. "Haben Sie diesen Lippenstift noch, die Nummer 486? Das ist der Beste, den ich je gehabt habe," fragte sie eine Verkäuferin. Die Verkäuferin sah sie an. Lange. Als denke sie darüber nach, ob auch Frauen um die 40 schon dement sein können.

"Geh nach Hause ins Bett", sagte leise die Stimme der Vernunft. "Du wirst noch ein paar Tage ohne Lippenstift durchhalten." Aber Vernunft hatte mit all dem gar nichts mehr zu tun.

Schliesslich fand sich eine weitere Verkäuferin, die der Frogg sanft wie einem verzweifelten Kind einen neuen Lippenstift aufschwatzte. Das Rot stimmte. Naja, ungefähr. Ich schickte mich an, ihn und ein paar Lebensmittel über den Hügel nach Hause zu tragen. Es ist ein kleiner Hügel. Normalerweise überquere ich ihn ohne daran zu denken, dass er ein Hügel ist. Diesmal fühlte ich mich, als müsste ich den Hügel mit meinen Schultern verschieben. Ich schlich aufwärts, schwer wie eine pensionierte Dampfwalze.

Zuoberst auf dem Hügel, bei der Bushaltestelle, irrte ein alter Mann herum. "Können Sie mir sagen, wo das Kantonsspital ist?" fragte er.

"Kommen Sie mit mir", sagte ich. "Ich muss in die gleiche Richtung. Aber gehen Sie nicht so schnell! Ich bin nicht so fit!"
"Dann geben Sie mir Ihre Tasche", sagte der alte Mann fröhlich und nahm mir die Tüte aus der Hand. Wenn ich genügend Kraft gehabt hätte, wäre ich gerührt gewesen. Aber ich schob ja den Hügel mit meinen Schultern und unter mir zupfte der Schwindel sacht am Asphalt. Ich hatte keine Kraft, gerührt zu sein.

Der alte Mann erzählte mir, dass er im Spital seine Frau abholen müsse. Dass sie eine Brustamputation gehabt habe. Irgendetwas von Kanülen erzählte er. Ich hörte zu und schob die Welt vor mir her und war froh, dass er wenigstens meine Tasche trug. "Was wird der arme Mann tun, wenn ich plötzlich nach hinten hinknalle?" fragte ich mich.

Aber ich stand. Ich ging. Zehn Minuten später war ich zu Hause. Ich legte mich hin und schlief eine geschlagene Stunde lang.
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Journal einer Kussbereiten

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