14
Aug
2008

Nachtbus nach Istanbul

Morgens um 4 Uhr, irgendwo zwischen Manisa und Bursa. Der Bus biegt von der Landstrasse ab. Wie eine Fata Morgana taucht vor unseren schlaftrunkenen Augen eine hell erleuchtete Autobahnraststätte auf. Der Fahrer sucht sich einen Parkplatz. Mindestens zehn Busse stehen hier.

Mit wackligen Kniegelenken taumeln wir hinein die Menschenmenge auf dem Vorplatz. Hier gehts so geschäftig zu und her wie am heiterhellen Tag. Und: Es wimmelt von Frauen mit Kopftüchern. Ich stakse zum WC. Auch dort: Frauen mit Kopftüchern. Ein paar Mädchen haben ihre Mäntelchen abgenommen und zeigen, was sie darunter tragen: modische T-Shirts mit kurzen Ärmeln und tiefen Ausschnitten.

Und dann draussen die Bar. Das Licht blendet. Die Türken stehen mit grossen, blauen Gläsern da. Trinken mit Strohhalmen eine Flüssigkeit, die aussieht wie Pinha Colada. Weiss. Etwas schaumig. Alle trinken das Zeug. Auch die Kopftuchfrauen trinken Pinha Colada, sogar drei schwarze Mareien am Nebentisch. "Was ist denn hier passiert?" fragt die Frogg. Da kommt unsere Sitznachbarin vorbei, sie kann ein bisschen Englisch, hält lächelnd ihr blaues Glas in die Höhe und erklärt: "Ayran! Very good!"

Die Frogg ist froh, dass sie das Zeug nicht trinken muss! Ayran mag sie nicht. Das hat sie schon in den ersten Tagen in Istanbul gemerkt. Sie trinkt Tee und schaut um sich. Todmüde und vollkommen fasziniert zugleich. Alles kommt ihr hier surreal vor. Der infernalische Lärm der Busmotoren draussen. Das Gerede. Sie ist wie gerädert, seit acht Stunden sitzt sie im Bus. Seit Bodrum. Wie halten die Türken es aus, so zu reisen? In Nachtbussen. Auf diesen unendlichen Strecken. 13 Stunden soll unsere Reise dauern. Doch die Türken halten es aus. Tun so gelassen, als sei es 10 Uhr morgens.

Auf Türkisch wird per Lautsprecher wieder einmal die Abfahrt eines Busses verkündet. Fährt jetzt unserer? Wir werden nervös und gehen nach draussen. Aber wir können noch hierbleiben. Wir warten. Erst später steigen wir ein, wenn die anderen in unserem Bus es auch tun. Dann schläft die Frogg wieder ein. Sie wacht auf, als der Bus auf eine total leere Autobahn biegt. "Ankara" steht auf dem Wegweiser. Ja, denkt sie. Möge dieser Bus nach Ankara fahren. Sie mag nicht an das Flugzeug denken, das sie morgen in die Schweiz zurück bringen wird.

Sie schläft wieder ein. Wacht schon zehn Minuten später wieder auf, denn jetzt geht die Sonne auf, ploppt direkt vor ihren Augen über einen Hügel am Horizont, orangerot. "Wir fahren wirklich direkt nach Osten", denkt die Frogg noch. Stellt noch fest, dass es hier genau gleich aussieht wie in Rumelien: wogende Felder, ein paar Eichen. Sie denkt: "Hach! Jetzt fahren wir nach Ankara!" Schläft wieder ein, richtig tief. Wacht erst wieder auf, als Herr T. sie anstupst. "Aussteigen!" sagt er, "Wir sind auf der Fähre!"

Ja, hier sind wir.

DSCN0907

Irgendwo auf dem Marmara-Meer. Wo genau wissen wir nicht. Herr T. behauptet, wir seien praktisch schon am Bosporus. Wir seien bald am Ziel, nahe beim Otogar. Ich glaube ihm. Herr T. ist schliesslich Geograph.

Doch dann verlässt der Bus die Fähre und fährt und fährt. Viel länger als wir erwartet haben. Waren wir hier schon einmal, auf dem Weg nach Süden? Kann sein. Sieht hier ähnlich aus wie bei der Abfahrt. Doch dann hält der Bus an einer winzigen Station neben der Autobahn. Eine ellenlange Lautsprecher-Ansage folgt. Sollten wir hier aussteigen? Viele steigen hier aus. Aber unsere Sitznachbarin bleibt noch. Und wir bleiben besser auch. Der Otogar kann nicht weit sein, und den kennen wir. Von dort werden wir den Weg ins Stadtzentrum leicht finden.

Unser Bus fährt weiter. Fährt und fährt. Hinein in einen Pinienwald. Wir werden stutzig, Verlässt der Bus die Stadt? Dann schiesst er hinaus auf eine Brücke. "Hey, wir fahren über den Bosporus!" ruft Herr T. Er hat Panik in der Stimme. Und er hat Recht, herrgottsternen! Unter uns liegt sie, die berühmte Wasserstrasse! Aber über den Bosporus sollten wir jetzt nicht fahren! Das ist ganz falsch! Denn so fahren wir weg vom Otogar, der Otogar liegt doch in Europa! Und wie um alles in der Welt kämen wir von Asien je wieder zurück in den europäischen Teil Istanbuls? Das hatte uns schon bei unserem ersten Aufenthalt ungeheuer schwierig geschienen: Hinüber nach Asien und zurück zu kommen. Und jetzt... mit all dem Gepäck...

"Jetzt fahren wir doch nach Ankara!" sagt die Frogg ängstlich.

Aber unsere Sitznachbarin beruhigt uns. "Bus go to otogar", versichert sie.

Haben wir den Bosporus etwa von Osten nach Westen überquert? Wir können unsere Sitznachbarin nicht fragen, denn sie macht sich zum Aussteigen bereit. Kurz danach verlässt sie uns auch. Der Bus hat wieder mal in irgendeiner einer Seitenstrasse gehalten. Auch andere steigen aus. Wir bleiben fast als einzige im Bus zurück.

Der Bus fährt wieder los. Fährt und fährt. Bis wir in der Ferne das neue Ikea-Center sehen. Noch nie habe ich mich über den Anblick eines Ikea Centers so gefreut, denn dieses Ikea Center steht direkt neben dem Otogar, daran erinnere ich mich gut.

Im untersten Stock des riesigen Busbahnhofs wirft uns der Bus mit Sack und Pack aus, zwischen Staub und Dreck. Es ist kurz nach neun Uhr. Wir sind wieder in Istanbul. Auf der richtigen Seite des Bosporus. "Wir haben das Marmara-Meer auf der asiatischen Seite überquert. Wir haben eine Rundfahrt durch Üsküdar gemacht und es nicht gewusst. Wir haben den Bosporus überquert und viel zu wenig gestaunt. Wir Idioten!" sagt Herr T. Dann brechen wir auf. Wir haben noch einen letzten Tag in Istanbul.

Ja. Und dieses Video vom Otogar von Istanbul (gefilmt vor dem ersten von sieben Ausfahrten) widme ich Herrn T.:

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