22
Jul
2008

Hochzeit auf Türkisch

In Çanakkale stiegen wir im Anafartalar ab, direkt neben dem Fährhafen. Das Hotel hatte den Charme eines Intourist-Hotels, das kürzlich zum Kapitalismus übergelaufen ist und sich freudig etwas frische Farbe über die Betonwände gezogen hat. Überhaupt schien die ganze Uferpromenade gerade erst aus irgendeiner ökonomischen Starre erwacht zu sein.

Auch die Menschen draussen, fast ausschliesslich Türken, benahmen sich, als seien Sommerferien am Meer durchaus nichts Selbstverständliches. Als würden Sittenpolizisten sie beobachten und wegschicken, falls sie die Idylle durch schlechtes Benehmen störten. Sie kleideten sich sittsam. Sie redeten leise. Sie lachten nicht zu laut, hörten keine Musik, prassten nicht und betranken sich sowieso nicht. Und schienen es auch vollkommen richtig zu finden, dass man sich so und nicht anders benahm.

Wir spazierten einen stillen, rosigen Sonnenuntergang lang auf der Promenade und gingen essen. Dann, kurz vor 23 Uhr, stiegen wir die Treppen hoch zu unserem Hotelzimmer. Im 1. Stock fiel unser Blick auf eine mindestens fünfstöckige Hochzeitstorte. Männer in schicken Anzügen standen um sie herum. Im 1. Stock lag der Festsaal des Hotels, und hier herrschte Ausgelassenheit. Da wurde auch laute Musik gehört, wie wir feststellten als wir in unser Zimmer kamen. Es lag im 2. Stock, direkt über dem Saal. Zeitweise bekamen wir bestimmt 90 Dezibel von unten ab (und das ist keine Frogg'sche Übertreibung, Im Fall!!!). Türkische Schlager ab Synthesizer, dazwischen der Jubelgesang orientalischer Frauen bei Hochzeiten, eine Mischung aus Jodeln, Gurgeln und Juchzen. Es war aufregend und zugleich beängstigend. Würde das die ganze Nacht so gehen?

Nach einer Viertelstunde ging Herr T. kurz hinunter, um beim Nachtportier Erkundigungen einzuziehen. Wir waren nach sechs Stunden im Bus hundemüde. Nötigenfalls würden wir in ein anderes Zimmer ziehen müssen. Als er zurückkam, sagte er: "Um Mitternacht soll das Fest zu Ende sein. Na, wir warten mal ab, ob das wirklich stimmt." Dann tat er, was der einsame türkische Geschäftsmann auf Reisen wohl auch tut und wandte er sich dem Fernseher zu. Die Frogg widmete sich derweil ihren Tagebuch-Notizen.

Er stiess auf Hustler TV. Bald mischte sich Lustgestöhn unter die orientalischen Dezibel aus dem 1. Stock.

"Seltsam, dass man das hier gratis bekommt", sagte Herr T. und die Frogg fügte amüsiert ein paar Bemerkungen hinzu, in denen das Wort "Doppelmoral" vorkam. Dann sah sie auf dem Bildschirm einer Blondine zu, die sich mit sämtlichen Saugmuskeln ihres Mundes am riesigen Schwanz eines selbstverliebten Banditen abmühte. Dazu sah sie den Kerl von unten herauf an. Mit dem erbarmenswürdigsten Blick an, den die Frogg je gesehen hat.

Sie hörte auf zu grinsen und wandte sich wieder ihen Notizen zu.

Um punkt fünf nach zwölf stoppte die Musik im 1. Stock schlagartig und es wurde still.

Wir hörten nichts als das Meer und die Geräusche der vorbeituckernden Schiffe.
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Journal einer Kussbereiten

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