Wenn wir nichts mehr beweisen müssen, werden wir wie unsere Urahnen: Wir streifen durch die Wälder und suchen Pfade über die Wiesen. Wir werden Wildbeuter ohne Wild, Nomaden ohne Zelte. Wir lassen uns von unseren Launen von Ort zu Ort tragen. Es hat keinen Sinn und Zweck, aber es gehört zu den Dingen, für die unsere Körper gemacht sind. Wenn wir es tun, werden wir Teil der Welt, aus der wir gefallen sind.
Seit zwei Monaten bin ich 45. Damit gehöre ich marketing-soziologisch zu einer neuen Altersgruppe: Ich bin jetzt mittleren Alters. Das wirft neue Fragen auf, zum Beispiel: Wie soll ich mich kleiden, wenn ich älter werde? Ich tue etwas, was ich früher nie getan habe, weil Kleider mir egal waren (ich weiss, das glaubt mir jetzt keiner, aber egal!): Ich achte darauf, was andere Frauen tragen.
Dabei will es der Zufall, dass mein Bus vom Bahnhof zu mir nach Hause auch an einem Altersheim vorbeifährt. Am Sonntag brauche ich mich darin nur umzusehen und ich kann feststellen: Der Hosenanzug steht bei Frauen ab 60 hoch im Kurs. Da sitzen sie, die alten Damen, adrett und schmal wie Porzellanpuppen, jede von ihnen in einem marineblauen oder fein karierten Sonntagsanzug. Das gute Stück verhüllt und formt zugleich und hat etwas Klassisches.
Was die Frauen an jugendlichen Schmelz verloren haben, machen sie mit filigranem Goldschmuck wett. Sie müssen eine gewisse Kaufkraft haben. Wahrscheinlich besuchen sie ihre pflegebedürftigen Ehemänner, die in ihren besten Jahren als Staatsbeamte und Ingenieure gewirkt haben.
Wobei - nicht alle älteren Damen beweisen bei der Wahl ihrer Hosenanzüge Diskretion und Klasse. Letzthin habe ich in der Migros ein Paar eineiige Zwillinge um die 70 gesehen. Sie trugen beide den tupfgenau gleichen und gleichfarbigen Hosenanzug - psychedelisch leuchtend hortensienblau. In der winzigen Migros verstellten die beiden dicht an dicht den Weg zwischen den Gestellen. Und doch wollten und wollten sie nicht zu einem einzigen hortensienblauen Farbfleck zusammenschmelzen. Der Anblick war surreal - geradezu verstörend.
"Nein, ich will einmal keinen Hosenanzug tragen!" denkt Frau Frogg. Überhaupt: Alle diese Hosenanzug tragenden Damen scheinen eine zierliche Figur zu haben. Ihr Anblick zeugt stets von einem in Anstand und Mässigkeit verbrachten Leben. Wie langweilig.
Ich habe mein Leben nicht in Anstand und Mässigkeit verbracht. Ich fürchte, ich werde einmal ein Bäuchlein haben. Und kein Geld für einen Hosenanzug.
Ich bin ratlos.
Zum Glück habe ich kürzlich am Bahnhof ein ganz anderes Kaliber Frau gesehen. Eine Mitfünfzigerin mit langen roten Haaren in Jeans und einem Holzfällerhemd. Sie hatte eine robuste Figur und etwas Verwegenes. Eine zur Piratin gewordene Sirene.
Ich war erleichtert. So etwas gibt es also. Ja, genau: So möchte ich älter werden.