12
Sep
2010

Im Hosenanzug

Seit zwei Monaten bin ich 45. Damit gehöre ich marketing-soziologisch zu einer neuen Altersgruppe: Ich bin jetzt mittleren Alters. Das wirft neue Fragen auf, zum Beispiel: Wie soll ich mich kleiden, wenn ich älter werde? Ich tue etwas, was ich früher nie getan habe, weil Kleider mir egal waren (ich weiss, das glaubt mir jetzt keiner, aber egal!): Ich achte darauf, was andere Frauen tragen.

Dabei will es der Zufall, dass mein Bus vom Bahnhof zu mir nach Hause auch an einem Altersheim vorbeifährt. Am Sonntag brauche ich mich darin nur umzusehen und ich kann feststellen: Der Hosenanzug steht bei Frauen ab 60 hoch im Kurs. Da sitzen sie, die alten Damen, adrett und schmal wie Porzellanpuppen, jede von ihnen in einem marineblauen oder fein karierten Sonntagsanzug. Das gute Stück verhüllt und formt zugleich und hat etwas Klassisches.

Was die Frauen an jugendlichen Schmelz verloren haben, machen sie mit filigranem Goldschmuck wett. Sie müssen eine gewisse Kaufkraft haben. Wahrscheinlich besuchen sie ihre pflegebedürftigen Ehemänner, die in ihren besten Jahren als Staatsbeamte und Ingenieure gewirkt haben.

Wobei - nicht alle älteren Damen beweisen bei der Wahl ihrer Hosenanzüge Diskretion und Klasse. Letzthin habe ich in der Migros ein Paar eineiige Zwillinge um die 70 gesehen. Sie trugen beide den tupfgenau gleichen und gleichfarbigen Hosenanzug - psychedelisch leuchtend hortensienblau. In der winzigen Migros verstellten die beiden dicht an dicht den Weg zwischen den Gestellen. Und doch wollten und wollten sie nicht zu einem einzigen hortensienblauen Farbfleck zusammenschmelzen. Der Anblick war surreal - geradezu verstörend.

"Nein, ich will einmal keinen Hosenanzug tragen!" denkt Frau Frogg. Überhaupt: Alle diese Hosenanzug tragenden Damen scheinen eine zierliche Figur zu haben. Ihr Anblick zeugt stets von einem in Anstand und Mässigkeit verbrachten Leben. Wie langweilig.

Ich habe mein Leben nicht in Anstand und Mässigkeit verbracht. Ich fürchte, ich werde einmal ein Bäuchlein haben. Und kein Geld für einen Hosenanzug.

Ich bin ratlos.

Zum Glück habe ich kürzlich am Bahnhof ein ganz anderes Kaliber Frau gesehen. Eine Mitfünfzigerin mit langen roten Haaren in Jeans und einem Holzfällerhemd. Sie hatte eine robuste Figur und etwas Verwegenes. Eine zur Piratin gewordene Sirene.

Ich war erleichtert. So etwas gibt es also. Ja, genau: So möchte ich älter werden.

logo

Journal einer Kussbereiten

User Status

Du bist nicht angemeldet.

Suche

 

Impressum

LeserInnen seit dem 28. Mai 2007

Technorati-Claim

Archiv

September 2010
Mo
Di
Mi
Do
Fr
Sa
So
 
 
 2 
 3 
 7 
 9 
10
11
14
15
18
19
20
22
23
25
27
29
 
 
 
 

Aktuelle Beiträge

Kommentar
Liebe Frau frogg, schauen Sie bitte bei WordPress...
Freni - 28. Nov, 20:21
Ein schreckliches Tal
Soglio im Bergell, Oktober 2013. Was habe ich Freunde...
diefrogg - 6. Okt, 20:27
Liebe Rosenherz
Danke für diesen Kommentar, eine sehr traurige Geschichte....
diefrogg - 11. Jan, 15:20
Ja, die selektive Wahrnehmung...
auch positives oder negatives Denken genannt. In den...
diefrogg - 9. Jan, 18:14
liebe frau frogg,
ein bisschen versuch ich es ja, mir alles widrige mit...
la-mamma - 5. Jan, 14:04

Status

Online seit 7146 Tagen
Zuletzt aktualisiert: 17. Sep, 17:51

Credits


10 Songs
an der tagblattstrasse
auf reisen
bei freunden
das bin ich
hören
im meniere-land
in den kinos
in den kneipen
in den laeden
in frogg hall
kaputter sozialstaat
kulinarische reisen
luzern, luzern
mein kleiner
offene Briefe
... weitere
Profil
Abmelden
Weblog abonnieren