30
Jun
2008

Fussball in Istanbul

Seit gestern sind wir aus der Türkei zurück. Seit gestern ist die Fussball-EM zu Ende. Eigentlich ist es zu spät, die Erinnerung an unser persönliches Spiel der Spiele Revue passieren zu lassen: Schweiz - Türkei am 11. Juni. Ich werde es dennoch tun. Einfach, weil es so schön war: Wir sahen den Match in einer Seitengasse der Istiklal Caddesi, der Vergnügungsmeile von Istanbul. In einem kleinen Restaurant mit weissen Tischtüchern, warmem Licht und offenen Türen.

Neben dem Fernseher hing dieses Bild:

atatuerk

Es zeigt Mustafa Kemal Atatürk. Den Vater aller Türken. Den Mann, der nach dem Ersten Weltkrieg aus den Trümmern des Osmanischen Reiches die moderne Türkei schuf. Er starb 1938. Sein Bild sieht man in der Türkei heute noch täglich irgendwo. In unserem Restaurant wachte er über das Spiel und ich ahnte: Die Türken würden gewinnen. Denn wer wird nicht gewinnen, wenn dieser Blick über ihn wacht? Diese väterliche Wärme. Diese Ahnung von Grausamkeit. Das Wissen: Dieser Mann kann töten. Und die Ungewissheit: Aus welchem Anlass würde er es tun?

Hätte doch Fatih Terim gewusst, dass der Vater aller Türken persönlich über das Spiel wachte! Er hätte mit seinen Affentänzen gar nicht erst begonnen.

Das Restaurant wurde voll und voller. Den vordersten Zehnertisch füllte allein ein zahnloser, liebenswürdiger, aber nicht ganz zurechnungsfähiger Türke. Er gehörte wohl zur Familie. Jedenfalls behandelten ihn die zahlreichen Kellner mit freundlicher Nachsicht. Auch wenn er sich in Glücksmomenten den französischen Touristinnen am Nachbartisch allzu freudig an die Oberweite hängte. In der zweiten Reihe sass eine türkische Grossfamilie. Die weiteren Reihen füllten Touristenaus den USA, die selbstverständlich für die Türken waren. Wir, an einem Seitentisch, waren die einzigen Schweizer. Unser Jubel über das Goal von Hakan Yakin ging im Zorngeschrei der Türken unter.

Nun suchten die Türken den Ausgleich, und die Spannung steigerte den Appetit der Gäste ins Unermessliche. Auf silbernen Tabletten trugen die Kellner Berge von frittierten Sardellen und Calamares, Salat und volle Brotkörbe vorbei. Und dazu Getränke. Und später Teller voller Wassermelonenschnitze, Aprikosen und Kirschen.

Das Wetter trug viel zum allgemeinen Wohlgefühl bei: Derweil die Fussballkämpfer in der Schweiz durch knöcheltiefe Regenpfützen schlitterten, sass man in Istanbul im T-Shirt vorm Fernseher - trotz fortgeschrittener Stunde ohne Jäckchen. Als Semih in der 57. Minute das erste türkische Tor schoss, wurde aus dem Fussballfest vollends ein grosses Fressen.

Derweil erob sich draussen ein dumpfes Dröhnen. Rundum gab es Bars, die ihren letzten Stuhl vor den Fernseher im Freien gestellt hatten. Und die Zuschauer da draussen schienen alle Pauken mitgenommen zu haben. Es war ein gewaltiger Lärm. Die Istiklal Caddesi brodelte... ach was, brodeln tut sie jede Nacht, sie kochte über, sie zischte und dampfte wie ein Wasserfall auf einer gigantischen, hiessen Herdplatte. Die Spannung stieg ins Unermessliche.

Für uns wäre ein Unentschieden schon ok gewesen.

Doch dann, ganz am Schluss, fiel das Siegestor der Türken.

Der Zahnlose fiel den Französinnen um den Hals. Alle Türken sprangen auf und jubelten. Die Touristen sprangen auf und jubelten. Wir standen auf und taten irgendetwas. Draussen legte das Getöse an Dezibel zu. Dann kamen zwei Musiker herein und begann den allgemeinen Lärm mit traditioneller türkischer Volksmusik zu übertönen.

Mir wurde es zu laut. Wir gingen. Draussen zogen Scharen feiernder Türken mit Fahnen durch die Gassen.

Herr T. und ich machten uns auf den Weg in unsere Wohnung. "Eigentlich", sage ich zu Herrn T., als wir die erste ruhige Strasse fanden, "Eigentlich ist das für uns eine Win-Win-Situation. Die Türken hätten uns doch verhauen, wenn die Schweizer gewonnen hätten!" Solches Zeug behauptet die Frogg. Obwohl sie überhaupt kein Gesicht macht, als hätte sie eben sowieso gewonnen. Nein. Sie ist enttäuscht und fühlt sich einsam.

Erst später sollte sie feststellen, dass die Stärke der Türken erhebliche Vorteile hatte: So hielt das Fussballfieber in der Türkei noch zwei Wochen an. Es sorgte stets für guten Gesprächsstoff mit Reisebekanntschaften. Und für mächtige Spektakel: leintuchgrosse Türkenflaggen an den unglaublichsten Orten und Feuerwerke bei ersten Goal gegen die Deutschen.

Erst danach wurde es ruhiger.

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Herr T - 1. Jul, 02:25

Fatih Terim - Dirigent

Fatih (dt. der Eroberer) Terim, der Trainer der türkischen Fussballmannschaft, ist derart Kult, dass es auf Youtube 1180 Videos zu besichtigen gibt. Sowohl in Deutschland (Oliver Pocher) als auch in der Türkei (Ata Demirer) liefert er Stoff für Kabarettisten, Komiker und Imitatoren. Doch am besten ist immer noch das Original. Der türkische TV-Kanal atv hat einen coolen Clip zusammengeschnitten und vor dem Deutschland-Spiel gezeigt. Er zeigt den Dirigenten Fatih Terim in voller Action, oben rechts übrigens der Countdown bis zum Spielbeginn. Das Video zeigt ausserdem die überschäumende Fussballbegeisterung der Türken beim Last-Minute-Tor von Semih gegen Hrvatistan (Kroatien auf türkisch) mit dem Torjubel des Kommentators und der türkischen Fans.



Enjoy!

Herr T.

diefrogg - 1. Jul, 09:50

Das Video...

ist wirklich köstlich! Vielen Dank, Herr T.! Ein weiteres, hübsches Souvenir aus der Türkei!
katiza - 1. Jul, 07:13

Willkommen daheim!

Schön, dass Sie wieder da sind Frau Frogg. Auch mich haben die Atatürk Bilder in Istanbul immer etwas irritiert. Und mir haben - trotz allem Euro-Skeptizismus - die feiernden Türken in Wien sehr gut gefallen. Frau Frogg unsere Fussballmannschaften haben eh keine Chance, da könnene wir uns praktischerweise leicht mit allen anderen mitfreuen!

diefrogg - 2. Jul, 10:03

Wir waren...

ja vor der Euro in die Türkei geflohen (wollten ursprünglich nach Österreich - Ungarn, wie Sie wissen). Aber so fern vom heimatlichen Medienrummel hats mir dann doch den Ärmel hineingenommen (jedenfalls ein bisschen). Herzlichen Dank für den Willkommensgruss, übrigens. Es ist schön, hier so schnell wieder auf alte Freunde zu stossen! Waren Sie denn auch schon in Istanbul?
canela.wordpress - 1. Jul, 10:50

schön bist du wieder da! also können wir vier girls den spanischen sieg feiern und das nachtessen nachholen ;-)

acqua - 1. Jul, 10:56

Ou ja!
diefrogg - 1. Jul, 13:45

Ja,ja!

Unbedingt!
acqua - 1. Jul, 10:57

"Weil es so schön war." schreibst du und "win-win"?!? Ihr müsst wirklich tolle Ferien gehabt haben!
Willkommen zurück!

diefrogg - 2. Jul, 10:06

Ja, toll...

Ich bin eigentlich immer begeistert von meinen Reisen. Auch wenn sie so anstrengend sind wie die hier...
nanou - 1. Jul, 14:28

Hallo daheim,
nochmal kurz zurück zu Hr. Atatürk. Meiner Erfahrung nach polarisiert der Mann auch innerhalb seiner Nation. Viele Türken, die ich kenne, lieben und verehren ihn angeblich. Aber bei einigen hab ich den Verdacht, sie nehmen es ihm übel, dass er die Trennung von Religion und Staat durchgesetzt hat, (weil sie gerne die Sharia ... bei sich hätten...?) Er hänge auch in vielen Wohnungen in Deutschland an der Wand, so wurde mir mitgeteilt.

diefrogg - 2. Jul, 10:09

Das entspricht...

in etwa den Feststellungen, die ich gemacht habe. Ich verstehe, dass die Türken ihn verehren. Schliesslich hat er sie vor den Kolonialmächten gerettet. Ich verstehe auch, dass sie daneben finden, was er mit dem Islam gemacht hat. Er gehört in der Türkei nun mal dazu. Und ist übrigens mächt auf dem Vormarsch: dank saudiarabischen Finanzspritzen, mit denen Moscheen gebaut werden... und Spitäler und Schulen. Ich bin gespannt, was sich in der Türkei schliesslich durchsetzt: der Islamismus oder Europa. Oder beides?
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