Als die Amerikaner kamen
Der 6. Juni 1944 ist ein Wendepunkt in der Geschichte Europas. An jenem Tag landeten die Alliierten an der Küste der Normandie. Der Sieg über die Hitler rückte in Griffnähe. Es ist ein fürchterlicher Tag: Gegen 4500 junge Amerikaner, Briten und Kanadier und zwischen 5000 und 9000 Deutsche verlieren ihr Leben. Es war ein Dienstag.
Dass die Invasion drohte, wusste Fred Feuerstein, der als deutscher Gefreiter* irgendwo an der Westfront sass. Doch wann? "Möglicherweise kommt der Thommy überhaupt nicht", schreibt er noch, als er am 4. Juni wie jeden Sonntagabend einen Brief für seine Frau Erna beginnt. Bis er richtig loslegen kann, wird es diesmal Montag. Er berichtet: "Schau, ich wollte gestern den Sonntagnachmittag mit Briefeschreiben verbringen. Erst musste ich mich rasieren, waschen und vom Mittagsschlaf bin ich erst um 16.30 Uhr erwacht. Abendbrotstülle essen und schon ist es aus mit der Freizeit. Da schreit einer: 'Gefreiter Brodmann, sofort aufs Büro!' Dolmetschen. Wie ich zurückkomme, fragt schon der Zweite Kompanie-Offizier: 'Feuerstein, schauen Sie mal, wo ich etwas Schönes zu fressen kriege.' Also wieder ins Dorf. Er geht aber gleich mit. Weil er niemanden hat, schleppt er mich zu einer Tournée von Kneipe zu Kneipe. Und wies die pommerschen Schnapspreussen haben: zu jedem Glas Wein einen grossen Cognac."
Auch die französischen Besatzten fanden wohl diese Trinkgewohnheiten etwas merkwürdig.
Fred versucht nüchtern zu bleiben. Doch die Zumutungen gehen noch weiter: "Dann musste ich ihm Gesellschaft leisten beim Essen, aber selber zahlen! Die Getränke hat er freilich gezahlt … der Herr Oberleutnant war blau, blau. Nun muss ich in der Früh um sechs Uhr wieder aufstehen und heute Nacht wieder Wache schieben, während der Monsieur, einem guten, fabelhaften Franzosenbett schlafen kann bis am Vormittag."
Dann schimpft Fred über Kleinkram und Papierkrieg - bis der Brief, bislang sorgsam mit blauem Füller geschrieben, plötzlich abbricht.
Die letzte Seite beginnt er neu. Er schreibt hastig und mit Bleistift - offenbar am Morgen des 6. Juni: "Liebste Erna! Herzallerliebste Ernestina**! Diese Wache-Nacht gabs Alarm. Wie Ihr vernommen habt, ist der Thommy am Angreifen und wie. Es wird hart auf hart gehen. Ich schreibe an vorderster Linie, wo ich den Chef hinbegleitet habe. Nun verlasse ich mich aufs Glück. Solltet Ihr vielleicht später lange nichts hören, dann soll Dorli*** beim Roten Kreuz anfragen in Genf. Habt mich lieb, wie ich Euch bis zum letzten Pulsschlag liebe und nochmals innig küsse, Euer Pappa, Dein Fred."
* Die Bedeutung der Tatsache, dass Fred 1944 schon seit längerer Zeit Gefreiter ist, wurde mir erst bei der zweiten Lektüre der Briefe klar. Das heisst: Wenn seine "wehrkraftzersetzenden Äusserungen" überhaupt je stattgefunden haben, dann viel früher. Fred wäre nicht aufgestiegen, wenn er sich nicht angepasst verhalten hätte - oder mehr. Noch im Frühjahr 1944 bemüht er sich um eine weitere Beförderung. Die wird ihm jedoch verweigert - wegen der kritischen Lage werde zurzeit niemand mehr befördert, lässt man ihn wissen.
** Ernestina ist Fred Feuersteins Tochter, die Mutter von Herrn T.
*** Herrn T.s Grosstante Dora, Schwester von Erna Feuerstein. Sie war - wie Erna - Schweizerin.
Dass die Invasion drohte, wusste Fred Feuerstein, der als deutscher Gefreiter* irgendwo an der Westfront sass. Doch wann? "Möglicherweise kommt der Thommy überhaupt nicht", schreibt er noch, als er am 4. Juni wie jeden Sonntagabend einen Brief für seine Frau Erna beginnt. Bis er richtig loslegen kann, wird es diesmal Montag. Er berichtet: "Schau, ich wollte gestern den Sonntagnachmittag mit Briefeschreiben verbringen. Erst musste ich mich rasieren, waschen und vom Mittagsschlaf bin ich erst um 16.30 Uhr erwacht. Abendbrotstülle essen und schon ist es aus mit der Freizeit. Da schreit einer: 'Gefreiter Brodmann, sofort aufs Büro!' Dolmetschen. Wie ich zurückkomme, fragt schon der Zweite Kompanie-Offizier: 'Feuerstein, schauen Sie mal, wo ich etwas Schönes zu fressen kriege.' Also wieder ins Dorf. Er geht aber gleich mit. Weil er niemanden hat, schleppt er mich zu einer Tournée von Kneipe zu Kneipe. Und wies die pommerschen Schnapspreussen haben: zu jedem Glas Wein einen grossen Cognac."
Auch die französischen Besatzten fanden wohl diese Trinkgewohnheiten etwas merkwürdig.
Fred versucht nüchtern zu bleiben. Doch die Zumutungen gehen noch weiter: "Dann musste ich ihm Gesellschaft leisten beim Essen, aber selber zahlen! Die Getränke hat er freilich gezahlt … der Herr Oberleutnant war blau, blau. Nun muss ich in der Früh um sechs Uhr wieder aufstehen und heute Nacht wieder Wache schieben, während der Monsieur, einem guten, fabelhaften Franzosenbett schlafen kann bis am Vormittag."
Dann schimpft Fred über Kleinkram und Papierkrieg - bis der Brief, bislang sorgsam mit blauem Füller geschrieben, plötzlich abbricht.
Die letzte Seite beginnt er neu. Er schreibt hastig und mit Bleistift - offenbar am Morgen des 6. Juni: "Liebste Erna! Herzallerliebste Ernestina**! Diese Wache-Nacht gabs Alarm. Wie Ihr vernommen habt, ist der Thommy am Angreifen und wie. Es wird hart auf hart gehen. Ich schreibe an vorderster Linie, wo ich den Chef hinbegleitet habe. Nun verlasse ich mich aufs Glück. Solltet Ihr vielleicht später lange nichts hören, dann soll Dorli*** beim Roten Kreuz anfragen in Genf. Habt mich lieb, wie ich Euch bis zum letzten Pulsschlag liebe und nochmals innig küsse, Euer Pappa, Dein Fred."
* Die Bedeutung der Tatsache, dass Fred 1944 schon seit längerer Zeit Gefreiter ist, wurde mir erst bei der zweiten Lektüre der Briefe klar. Das heisst: Wenn seine "wehrkraftzersetzenden Äusserungen" überhaupt je stattgefunden haben, dann viel früher. Fred wäre nicht aufgestiegen, wenn er sich nicht angepasst verhalten hätte - oder mehr. Noch im Frühjahr 1944 bemüht er sich um eine weitere Beförderung. Die wird ihm jedoch verweigert - wegen der kritischen Lage werde zurzeit niemand mehr befördert, lässt man ihn wissen.
** Ernestina ist Fred Feuersteins Tochter, die Mutter von Herrn T.
*** Herrn T.s Grosstante Dora, Schwester von Erna Feuerstein. Sie war - wie Erna - Schweizerin.
diefrogg - 20. Feb, 15:08
4 Kommentare - Kommentar verfassen - 0 Trackbacks
la-mamma - 20. Feb, 16:58
spannend, so ein "nachlass"!
ps: ich les grad "landgericht", da passen ihre letzten einträge irgendwie auch nicht schlecht dazu.
ps: ich les grad "landgericht", da passen ihre letzten einträge irgendwie auch nicht schlecht dazu.
diefrogg - 20. Feb, 17:19
Huch, der deutsche...
Buchpreis ist 2012 restlos an mir vorbeigegangen - zu anglophil, die Dame! Ursula Krechel: "Landgericht". Ja, das scheint mir tatsächlich passend - komplementär gewissermassen. Damit man sieht, was Leute wie Fred Feuerstein mit angerichtet haben.
la-mamma - 22. Feb, 16:00
ich bin bei ihnen, ich bevorzuge auch englischsprachige autoren, weil sie (im allgemeinen) besser erzählen. aber dieses buch ist eine leseausnahme wert ...
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