Seit gestern höre ich wieder Musik. Ja, ich weiss, für die meisten Leute ist das keine Schlagzeile. Für mich schon. Mein letzter Beitrag über Musik stammt vom Dezember 2013. Wenig später wurde ich wieder schwerhörig.
Aber gestern hörte ich plötzlich viel besser. Vorsichtig optimistisch ging ich auf Youtube und versuchte es mit The Clash. Menière-Patienten sollten es im Zweifelsfall mit The Clash versuchen - die Gitarren sind laut, satt und sowieso schräg gestimmt.
Siehe da, es ging.
Ich drückte mir die Kopfhörer gegen die Ohren und hörte Should I Stay or Should I Go und lächelte. Ich hörte "The Passenger" von Iggy Pop und lächelte immer noch (auch über das köstliche Video). Bei Heroin von Lou Reed begann ich zu weinen. In den tiefen Lagen eierte der Song ein bisschen. Aber ich weinte nicht deswegen. Ich weinte, weil es da eine Orgel gibt, die wirklich an die Tränendrüsen geht. Ja, es ist sentimental. Ich weiss. Ist halt so.
Ich achtete darauf, dass ich von allen Songs Versionen bekam, die ich kannte. Merkwürdigerweise klingt alles falsch, was ich nicht sehr gut kenne. Aber was ich kenne, kann ich mit ein bisschen Willenskraft zum Richtigklingen biegen. Das Gehör ist eine merkwürdige Sache.
Wenn ich es nie in meinem Leben verloren hätte, hätte Musik mich vielleicht nie mer so glücklich gemacht. Weil ich ab und zu schwerhörig werde, weiss ich, dass Musik konzentriertes Glück ist.
Jetzt möchte ich nur noch wissen, wie man dieses Glück, dieses Gefühl von Weite, diesen leichten Rausch auch ohne Musik aufbewahren kann.
"Mann!" denkt ihr jetzt. "Warum führt uns Frau Frogg so einen grauen Blues-Opa vor?! Wir wollen hier etwas Persönliches, mehr human interest!" Nun, das hier ist gerade human interest für mich. Ich kann Musik hören, und ich höre - und sehe - Blues Dokumentarfilme über Robert Johnson. Ich bin hingerissen von dieser hypnotischen Stimme, von dieser getriebenen Gitarre, von diesem Schalk, der manchmal aufblitzt. Ich erkenne eine verlorene Seele, wenn ich sie so herzzerreissend vorgeführt bekomme.
Mit 18 wurde Johnson eine Weile konventionell. Er heiratete ein Mädchen namens Virginia, und die beiden arbeiteten zusammen auf dem Land - irgendwo im Tiefen Süden der USA. Das war 1929. Robert spielte nur noch ab und an Bars, um etwas Geld dazu zu verdienen. Als Virginia schwanger wurde, ging sie zurück zu ihren Eltern. Robert zog los und machte Musik.
Als er zurückkam, war Virginia im Kindbett gestorben. "Das war Deine Schuld", sagten die Verwandten zu Robert. "Du machst diese Teufelsmusik. Das ist die Strafe dafür." Da war er 19. Danach verlieren sich seine Spuren für eine Weile. Als er wieder auftauchte, spielte er Gitarre wie ein Besessener. Es heisst, er habe einen Pakt mit dem Teufel geschlossen, um so gut Gitarre spielen zu können.
Er war bitter arm wie alle Afroamerikaner des Südens in den 30er-Jahren. Aber er hatte eine Leidenschaft: Schallplatten aufnehmen.
Viel Zeit blieb ihm nicht dafür. Er starb mit nur 26 Jahren. Das war 1938. Und wie alles im Leben des Mannes bleibt auch sein Tod düster und rätselhaft. Es scheint wahrscheinlich, dass jemand ihn aus Eifersucht vergiftet hat. Freunde brachten ihn in eine Hütte, wo er sich vier Tage lang vor Schmerzen gekrümmt haben soll. Auf seiner Sterbeurkunde steht unter Todesursache: "no doctor".
Ob er wusste, dass seine Musik die Saat für den Rock 'n' Roll enthielt? Für jene Musik, die später die Welt eroberte? Die zwei oder drei Generationen westlicher Jugendlicher aus den Fesseln überkommener Konventionen befreien würde?
Es ist denkbar. Ihm stand ein bemerkenswerter Durchbruch bevor. Kurz nach seinem Tod gab es in der Carnegie Hall in New York ein grosses Konzert mit Blues- und Jazz-Grössen statt. Johnson's Name stand auf dem Programm. Es soll das letzte gewesen sein, was man ihm sagte, bevor er starb. Hier mehr dazu.
* "You may bury my body down by the highway side so my old evil spirit can get a Greyhound bus and ride."*
Ich ging nach Hause, schlug es auf und entdeckte: Das Buch ist keine Song-Schatzkiste - nein, es ist ein ganzer Dachboden, ach was, ein ganzes Hochhaus voller Song-Schatzkisten. Es beginnt mit Enrico Carusos O sole mio (1926) und endet mit Stylo von den Gorillaz (2010). Jeder Beitrag erklärt die Geschichte eines Songs und schafft Querbezüge zu Cover-Versionen. Ich fing brav bei Caruso an, war begeistert über die tollen Bilder im Buch und geriet sofort ins Musikfieber.
"Kaufen, erbetteln, stehlen Sie sich die in diesem Buch vorgestellt 1001 Songs", schreibt Tony Visconti im Vowort des Buches - und natürlich klaute ich die Songs ohne jegliches Unrechtsbewusststein auf youtube. Denn das Internet verhundertfacht ja den Genuss, den einem eine solche Anthologie bereitet. Man kann Biografien nachlesen, noch mehr Songs von einer Band hören und und und...
Ich weiss nicht, ob ich für den Rest meines Lebens etwas anderes tun werde als in diesem Buch zu blättern.
Solltet Ihr auf meinen nächsten Beitrag warten müssen, schenke ich Euch zum Zeitvertrieb ein kubanisches Juwel aus dem Jahre 1929. Diese Stimme ist ein Aphrodisiakum!
Warum ich "nur" Rock'n'Roll schreibe, fragte Frau Walküre neulich in einem Kommentar. Sie warf - mit Ironiezeichen versehen - die Frage auf, warum wir Rock'n'Roll manchmal ein bisschen geringschätzig behandeln. Frau Walküre, das ist keine Frage, die man mit Ironiezeichen versehen muss. Das ist eine ernste und äusserst vielschichtige Frage. Wenn ich darüber nachdenke, fällt mir immer diese Diskussion ein, die ich mit meiner Freundin Helga im Herbst 2010 hatte. Sie ist promovierte Musikwissenschaftlerin und war einmal Opern-Dramaturgin. Doch wenn es um Rock'n'roll geht, muss man die Fragen für sie einfach formulieren. "Elvis oder die Beatles?" lautete die Frage.
"Beatles!!!" rief Helga mit Nachdruck, "Ich meine: Dieses... wie hiess es nochmal... 'Sgt. Peppers'... das ist doch die Fortsetzung der klassischen Musik mit modernen Mitteln." Nichts gegen "Sgt. Peppers", oh nein. Aber sie sagte es in diesem kompetenten Ton, der stets meinen Widerspruch herausfordert. "Elvis!" sagte ich. "Ich meine: Diese Stimme!"
"Aber Mona, ich muss schon sagen: 'Love Me Tender ist, musikalisch betrachtet, kein besonders guter Song!"Hier war der Ton fast etwas tadelnd. Da verschlug es mir die Sprache, denn ich erkannte: Zu den wenigen Dingen, die ich Helga nie werde erklären können, gehört der Rock'n'Roll. Helga lebt musikmässig auf dem Planeten Beethoven. Ich nicht.
Ich meine, klar: "Love Me Tender" ist eine Schnulze. Nur jemand vom Planeten Beethoven könnte "Love Me Tender" als Meilenstein der Rockmusikgeschichte missverstehen. Klar wünsche ich mir, Elvis hätte mehr Songs wie Heartbreak Hotel gemacht. Aber wir erwarten doch von Elvis nicht, dass er die Musik Wagners fortschreibt! Wir erwarten, dass er seine Stimme erhebt und die Hüften schwingt, bis wir weich in den Knien werden!
Es gehört zu den grossen Mythen des 20. Jahrhunderts, dass die Schwarzen im Mississippi-Delta den Blues bekamen. Dass sie den Sex in die Musik brachten und den Begriff Sound mit Inhalt füllten. Es gehört auch zu den grossen Mythen des 20. Jahrhunderts dass Weisse den Blues, den Sound, den Sex stahlen und damit ein Heidengeld machten.
Ob der Rock'n'roll deswegen einen Platz in den Feuilletons verdient hat, darüber muss man ja heute nicht mehr streiten. Will ich auch nicht. Wenn es um Erzeugnisse der Kultur geht, bin ich eine überzeugte Anhängerin von Pierre Bourdieu. Bourdieu schreibt in etwa: Mit der Kultur, die wir konsumieren, demonstrieren und zementieren wir unseren sozialen Status. Er zeigt in einer Studie aus den sechziger Jahren sehr deutlich: Opernkonsumenten gehören zur Oberschicht. Mehr muss man dazu nicht sagen.
Eigentlich schade, dass ich mich in der Oper immer etwas gelangweilt habe. Vielleicht wäre mein Leben anders verlaufen, wenn es nicht so gewesen wäre.
Aber das lässt sich jetzt nicht mehr ändern.
Dafür gibt es ein paar Fragen, die ich gern einer Musikwissenschaftlerin gestellt hätte. Zum Beispiel:
Wie hat YouTube unsere Wahrnehmung von Musik verändert?
Warum kommt uns einiges, womit wir gross geworden sind, heute pubertär vor? Anderes aber noch viel grösser als damals?
Liegt es an meinen fortgeschrittenen Jahren, dass mir viel Musik dieses Jahrzehnts etwas beliebig, etwas müde vorkommt?
Am letzten Wochenende hat mir mein Bruder den Teil meiner Schallplattensammlung zurückgegeben, den er sich nach meinem überstürzten Auszug von zu Hause unter den Nagel gerissen hatte.
Wie rohe Eier trug ich acht LPs durch die halbe Schweiz nach Hause. "Das ist das schwarze Gold meiner Jugend", dachte ich. Ich fieberte darauf, sie zu hören. Aber dann bekam ich merkwürdig zwiespältige Gefühle. Vieles kam mir ein bisschen pubertär vor.
Zum Beispiel die Scheibe hier:
Und nicht nur, weil sie bei "Black Dog" einen Sprung hat. Naja, vielleicht hatte ich zu hohe Erwartungen. Nach meinen Hörstürzen entdeckte ich Led Zeppelin neu und hielt "IV" eine Zeitlang für die Mutter aller Alben. Ich sah und hörte Led Zeppelin auf YouTube auf und ab. Aber als ich dann das Vinyl-Teil hörte, verstand ich auch, warum ich es mit 20 zu Hause liegen liess und lieber Jimi Hendrix ins Erwachsenenleben mitnahm. Sie klingt irgendwie flacher als die YouTube-Videos. Merkwürdig.
Oder die hier:
Kansas, "Point of Know Return"; solide Rockmusik, aber der geniale Touch fehlt.
Gleich links liegen liess ich die hier:
Bob Marley & the Wailers: "Exodus". Kann man die heute überhaupt noch hören?
Die hier habe ich mir für ein andermal gespart.
Denn plötzlich wusste DJ Philemon, mein innerer Plattenaufleger, sehr genau, was er hören wollte:
Pink Floyd: "Wish you were here". Das erstaunte mich. Mein Bruder hatte mir die Platte richtig aufdrängen müssen. "Doch, das war Deine", sagte er. Aber nun war ausgerechnet sie es, der ich eine Chance gab, mir auch heute noch etwas zu sagen. Und nicht etwas "The Wall" von Pink Floyd. Die halte ich heute definitiv für Gymnasiasten-Zeug halte.
Aber DJ Filemon hat eben zuweilen merkwürdige Anwandlungen.
Ich hörte. Hörte, wie da eine Band mit Synthesizern grosses Pathos inszeniert. Sollte ich ihnen das abnehmen? Ich weiss es immer noch nicht.
Irgendwo in meinem Hirn ist eine Radiostation versteckt. Sie versorgt mich oft schon mit Musik, wenn ich mich am Morgen aus dem Bett rapple. Es kommen keine ganzen Songs, sondern irgendeine Songzeile, ein Riff, ein Refrain. Ich nenne es Radio Frogg, und es hat einen penetranten DJ namens Philemon. Manchmal wiederholt er Songfetzen so lange, bis ich mich über ihn ärgere. Nicht zum Erstenmal ist mir gestern aufgefallen, dass er höchst eigenwillige Kriterien für die Auswahl seiner Ohrwürmer hat. Eine Art schwarzen Humor.
Gestern wehte mir den ganzen Tag lasziv die Songzeile "Aaaa. aaaa your hair is beautiful..." durch den Kopf. Die hypnotische Stimme von Debbie Harry. Etwa hundertmal. Unablässig. Was hatte DJ Philemon sich bloss dabei gedacht? Ich recherchierte. Es war dieser Song.
Bisschen frivol, das Video, dachte ich zuerst. Bis ich mich erinnerte, dass der Song damals durchaus Zeitgeist atmete. Ich meine: Es herrschte kalter Krieg. Die atomare Bedrohung war real. Manchmal hatte man das Gefühl, auf dem Vulkan zu tanzen.
"Keith Richards redet, wie er Gitarre spielt. Immer im Takt, kein Ton zu viel. Unverkennbar, unbeeindruckt, unverwechselbar." Ich halte Büttner für einen der besten Journalisten der Schweiz. Deshalb wunderte ich mich nach den ersten 100 Seiten ein wenig. "Vielleicht hat Büttner doch ein anderes Buch gelesen als ich", dachte ich. Denn den Prolog zu "Life" fand ich überhaupt nicht lakonisch. Richards schildert, wie er mit ein paar Kollegen in einem gottvergessenen Kaff in Arkansas von der Polizei hochgenommen wird - mit einem Auto voller Drogen. Das las sich - mit Verlaub - wie das Geleier eines Junkies. Mir wurde nie ganz klar, was an der Geschichte prologwürdig sein soll.
Dann kommt die Kindheit des späteren Rolling Stones-Gitarristen. Er wuchs als Büezer-Sohn im Nachkriegs-England auf. Das ist zwar nicht gerade langweilig. Und doch schien es mir, als hätte Co-Autor James Fox gelegentlich Mühe, die Story auf der Spur zu halten.
Aber dann bekommt der junge Keith den Stimmbruch. Er wird aus dem Schulchor geschmissen, für den er ein ganzes Schuljahr geopfert hat. Da beschliesst er, Rebell zu werden. Und hier hebt das Buch ab. Plötzlich ist der Rock-Veteran quicklebendig, verdammt eloquent, erzählerisch zielbewusst. Und er hat Humor.
Er hat ein paar intellgente Dinge über das Dasein als Star zu sagen. Souverän haucht er den grossen, alten Legenden der Stones-Geschichte neues Leben ein: den Aufstieg als die bösen Brüder der Beatles, Anita Pallenberg, den Tod von Brian Jones, Altamont, Heroin, alles da. Sogar über Gitarren spricht Keith so simpel und ergreifend, dass auch die - relative - Laiin dabei hellwach bleibt.
Wirklich. Lesenswert. Und hier der grosse Untote der Rockgeschichte in Person - für einmal ohne Gitarre:
Ich hätte ja so viel zu erzählen. Ein ganzes Epos könnte ich über meine dreitägige Deutschland-Reise schreiben!
Ausserdem hat der heutige "Tagesanzeiger" mir das Thema "Drei Nüsse für Aschenbrödel" schon vorweg genommen - auf der Front! Aber hier herrscht vorweihnachtliche Hektik (mitsamt den saison-üblichen Streitigkeiten). Also: Hört hier kurz rein! Es ist die tschechische Original-Version.
Ich weiss nicht viel über ihn. Aber eins weiss ich: Solomon Burke war ein grossartiger Songschreiber. Deshalb will ich hier gebührend Abschied von ihm nehmen. Denn die schwergewichtige Soul-Legende ist gestorben. Ich habe es eben am Radio gehört.
Solomon Burke hat einen Song komponiert, den die Rolling Stones zu einem Juwel meiner Jugend gemacht haben.
Noch als 20-Jährige liebte ich das penetrante, schleppende Bassriff. Ich liebte sogar die Stimme von Mick Jagger, die mir sonst nicht viel bedeutet. Ich liebte den Sprechgesang, das Geheul, den rauen Refrain.
Wie so vieles von anno dazumal schafften es die Stones mit diesem Song nicht bis in meine CD-Ära. Als nächstes begegnete ich ihm in einer flotten Version der Blues Brothers. Der gleichnamige Film der Band wurde in den späten achtziger Jahren in der Schweiz überraschend zum Kultfilm.
Aber schon diese Version lässt das Missbrauchs-Potenzial des Songs ahnen: Live eignet er sich bestens zur Publikums-Anmache nach dem Motto: "Jeder braucht jemanden zum Liebhaben. Wir brauchen Dich und Dich und Dich!" Im Film kommt das noch ein bisschen ironisch herüber. Die Band begrüsst ja auch die Polizisten, die sie festnehmen wollen. Aber wer die Live-Aufnahmen des Songs auf YouTube durchguckt, merkt: Meistens wirkt das nur plump.
Da ist die Studio-Version der Stones aus meinem Geburtsjahr 1965 etwas ganz anderes! Sie brachte für Teenager Frogg eine simple und zugleich höchst komplexe Wahrheit auf den Punkt. Ja, ich brauchte jemanden zum Liebhaben. Aber manchmal hatte das himmelschreiende Konsequenzen. Heulende Konsequenzen. Und der Song warf eine Frage auf: Ist das wirklich für alle so? Er war wie ein intimes Zwiegespräch zwischen mir und Mick.
Das ist alles lange her. Aber dennoch: Danke Mick. Und: Danke Solomon!