2
Jul
2014

Der Fluch des Schreibens

Viele Menschen kennen den unwiderstehlichen Drang zu schreiben. Sind sie deswegen auch gleich begnadete Künstler? Nirgendwo habe ich je ein niederschmetternderes Nein als Antwort auf diese Frage gelesen als bei Janet Frame.

Schon als Kind wollte die Neuseeländerin Schriftstellerin werden. In ihrer Autobiografie beschreibt sie, wie sie es wurde - trotz aller Widrigkeiten: So verbrachte sie acht Jahre in einer psychiatrischen Klinik. Als sie mit 29 entlassen wird, verfolgt sie weiter ihr Ziel. Allerdings wird sie von Selbstzweifeln geplagt. "Da war auch das beängstigende Wissen, dass der Wunsch zu schreiben noch nicht bedeutet, dass man auch Talent hat. Täuschte ich mich nicht ganz einfach selber wie andere Patienten, die ich im Spital gesehen hatte? Eine von ihnen war mir in besonderer Erinnerung, eine harmlose junge Frau, die still in ihrer Abteilung sass und Tag für Tag an ihrem 'Buch' schrieb ... Doch es bestand, wenn man es anschaute, aus nichts anderem als aus Seiten um Seiten mit Bleistift hingeschriebener "o-o-o-o-o-o-o-o-o".*

Leider bestätigt mein beruflicher Alltag diese himmeltraurige Anekdote. Ich sehe bei der Arbeit täglich viele Texte von Möchtegern-Autoren. Der Fairness halber muss man sagen: Bei den meisten handelt es sich nicht um Möchtegern-Schriftsteller. Sondern um Leute, die ihrem Ärger über ein ganz bestimmtes Thema Luft machen möchten. Um das zu tun, halten sie gerne die Regeln der vorgegebenen Textsorte ein. Manche sind dann vielleicht nicht so sicher in Rechtschreibung, Stil oder Grammatik - und einige haben Chef-Allüren und widmen sich lieber dem grossen Gedanken als den Feinheiten der deutschen Sprache. Das überlassen sie dem Personal. Das wäre dann meistens ich - zum Glück bin ich mittlerweile ganz gut im Gedankenlesen.

Nachdenklicher machen mich jene, die mit ihrem Ärger gleich ihr ganzes Denksystem mitliefern. Oft sind es gebildetere Leute. Oder sie haben jedenfalls den Anspruch, ihren Lesern die Welt zu erklären. Dass solche Autoren die Regeln der vorgegebenen Textsorte geradezu sprengen müssen, ist klar - und führt eher selten zu einem gelungenen Resultat. Dann vermischen sie kunterbunt - und oft in perfekter Grammatik und mit einem gepflegten Stil - Verschwörungstheorien, unausgegorene Philosophien und einen allgemeinen Weltekel. Was macht man als Publikationsorgan mit solchen Autoren? Sagen wir mal: Darauf gibt es keine einfache Antwort.

Ja, viele Schreibende scheitern. Manchmal dünkt mich, irgend eine Laune der Natur hat manchen Menschen den Wunsch zu schreiben wie einen Fluch ins Hirn gepflanzt. Aber sie hat vergessen, ihnen das restliche Rüstzeug mitzugeben.

Was man nebst Talent braucht, um eine gute Schriftstellerin zu werden, kann man bei Frame nachlesen: die Fähigkeit, grosse Einsamkeit auszuhalten; absolute Unbeirrbarkeit; das richtige Milieu; die richtige Zeit; den richtigen Ort; das richtige Publikum. Und sehr, sehr viel Glück.

* Janet Frame: An Angel at My Table (Seite 266, von mir übersetzt).

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Teufels Advokatin - 2. Jul, 13:17

Schöner Beitrag!

Nur fragt man sich, was man damit anfangen soll in der Welt von Facebook - in einer Welt, in der schon A-Blogger Anachronismen sind und litererarische Amateurinnen Millionen machen mit Büchern, die sie zuerst einmal auf Amazon für Kindle-Reader herausgegeben haben (wie P. L. James mit "Fifty Shades of Grey").

diefrogg - 2. Jul, 18:50

Ja, das stimmt...

natürlich. Darauf bin ich noch gar nicht eingegangen. Janet Frame hatte ja Jahrgang 1924 und ist seit zehn Jahren tot. Sie war nicht nur sehr begabt - sie traf auf ein Publikum, das offen war für ihre Geschichten. Oder es gelang ihr, Geschichten zu schreiben, die ihr Publikum fanden. Heute, in einem Klima, in dem Öffentlichkeit mehr und mehr verfällt, ist das alles sehr viel zufälliger geworden.
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