Halbfertige Gespräche
In der Buchhandlung mache ich dem Mann an der Kasse ein Kompliment für die englische Abteilung hier im Laden. Es ist eigentlich gar keine englische Abteilung. Es ist nur ein einziges, kurzes Brett mit zehn, vielleicht 15 englischsprachigen Titeln. "Und doch steht dort jedes Mal ein Buch, dem ich einfach nicht widerstehen kann", sage ich. Er packt meine neuen Bücher in eine Tüte und freut sich. Ich glaube, er sagt: "Da sind sie an den Richtigen geraten. Ich bin für den englischen Bestand zuständig." Aber er könnte auch etwas leicht anderes gesagt haben. Ich habe entschieden, nicht nachzufragen. Ich habe entschieden, einfach so zu tun, als hätte ich ihn verstanden. Meine Tage sind jetzt voller solcher Entscheidungen. Mein Gehör hat sich wieder verschlechtert. Ich verstehe längst nicht mehr alles, was mir die Leute sagen. In Sekundenbruchteilen muss ich entscheiden, ob ich nachfrage oder nicht. Oft ist der Entscheid irreversibel. Man kann einem Gegenüber schlecht nach vier oder fünf Sätzen sagen: "Könnten Sie nochmals von vorne anfangen? Ich habe keine Ahnung, wovon Sie reden." Das wirkt einfach unhöflich.
Früher hätte ich gesagt: "Man muss immer nachfragen! Das gebietet die elementare Freundlichkeit! Der Gesprächspartner hat das Recht darauf, verstanden zu werden. Immer."
Aber heute sehe ich auch: Ständiges Nachfragen streut Sand ins Getriebe jeder Konversation. Ständiges Nachfragen, manchmal zwei- oder gar dreimal, fühlt sich auch unhöflich an, so, als würde man den Gesprächspartner nicht ganz ernst nehmen.
Die Schwerhörigkeit ist ein Makel, eine Peinlichkeit. Sie zwingt uns, vom Gegenüber einen Dienst zu fordern. Den lästigen Dienst, sich zu wiederholen. Oft ist es für das Gegenüber schwer nachzuvollziehen, warum diese Wiederholungen jetzt nötig sind. Schwerhörigkeit kann man ja nicht sehen. Deshalb frage ich in Konversationen mit Fremden oft nicht viel nach. Ich versuche einfach, das Wesentliche irgendwie auf die Reihe zu bekommen.
Ich lasse den Buchhändler von seinen englischen Büchern erzählen. Er sagt: "Man muss halt irgendwie die Essenz finden, das Wichtigste. Das, was unsere Kunden wollen könnten." Das verstehe ich.
Früher hätte ich gesagt: "Man muss immer nachfragen! Das gebietet die elementare Freundlichkeit! Der Gesprächspartner hat das Recht darauf, verstanden zu werden. Immer."
Aber heute sehe ich auch: Ständiges Nachfragen streut Sand ins Getriebe jeder Konversation. Ständiges Nachfragen, manchmal zwei- oder gar dreimal, fühlt sich auch unhöflich an, so, als würde man den Gesprächspartner nicht ganz ernst nehmen.
Die Schwerhörigkeit ist ein Makel, eine Peinlichkeit. Sie zwingt uns, vom Gegenüber einen Dienst zu fordern. Den lästigen Dienst, sich zu wiederholen. Oft ist es für das Gegenüber schwer nachzuvollziehen, warum diese Wiederholungen jetzt nötig sind. Schwerhörigkeit kann man ja nicht sehen. Deshalb frage ich in Konversationen mit Fremden oft nicht viel nach. Ich versuche einfach, das Wesentliche irgendwie auf die Reihe zu bekommen.
Ich lasse den Buchhändler von seinen englischen Büchern erzählen. Er sagt: "Man muss halt irgendwie die Essenz finden, das Wichtigste. Das, was unsere Kunden wollen könnten." Das verstehe ich.
diefrogg - 21. Feb, 18:54
15 Kommentare - Kommentar verfassen - 0 Trackbacks
Lo - 21. Feb, 19:42
Oh, ich kenne das sehr gut. Manchmal tue ich auch so, als ob ich alles verstanden habe, weil mir (und den Anderen) das Nachfragen erspare....
;-)
;-)
diefrogg - 21. Feb, 19:58
;-)
Ja, genau, Sie sind ja auch ein Schlappohr, Herr Lo! Willkommen im Club!
steppenhund - 21. Feb, 20:24
Ich habe am Montag eine Violinsonate von Beethoven gespielt. Eine Geigerin hat ich gerade diese Sonate Opus 30/2 gewünscht. Sie ist in c-Moll. Eine Tonart, die für Beethoven eine große Bedeutung hatte.
Die Sonate muss 1802/1803 entstanden sein.
Das war eine Zeit, die für Beethoven fürchterlich gewesen sein muss. In dieser Zeit ist das Heiligenstädter Testament entstanden.
https://de.wikipedia.org/wiki/Heiligenstädter_Testament
Zitat aus obigem Artikel, in Anführung das direkte Beethoven-Zitat.
Die ersten zwei Drittel der Schrift nimmt die Rechtfertigung Beethovens gegenüber seiner Mitwelt ein, der er zu verstehen gibt, dass er nicht „Feindseelig störisch oder Misantropisch“ sei, sondern dass: „muste ich früh mich absondern, einsam mein Leben zubringen“,[2] da er durch seine Taubheit „zurückgestoßen“ sei, denn es war ihm unmöglich kundzugeben: „sprecht lauter, schreyt, denn ich bin Taub“. Den Verlust seines Gehörsinns „der bey mir in einem Vollkommenern Grade als bey andern seyn sollte, einen Sinn denn ich einst in der grösten Vollkommenheit besaß, in einer Vollkommenheit, wie ihn wenige von meinem Fache gewiß haben noch gehabt haben“ zu entbehren schließt ihn von der Gesellschaft aus und er bittet: „drum verzeiht, wenn ihr mich da zurückweichen sehen werdet, wo ich mich gerne unter euch mischte, doppelt Wehe thut mir mein unglück“. Er vermerkt dann sein Erlebnis in Gegenwart von Ferdinand Ries, als er bei einer Wanderung die Schmach empfand: „aber welche Demüthigung wenn jemand neben mir stund und von weitem eine Flöte hörte und ich nichts hörte, oder jemand den Hirten Singen hörte, und ich auch nichts hörte“. Dies stürzte ihn in Verzweiflung und „es fehlte wenig, und ich endigte selbst mein Leben – nur sie die Kunst, sie hielt mich zurück“.
Es ist wohl inhaltlich begreifbar aber bleibt trotzdem nicht nachvollziehbar, was dieser gesellschaftliche Ausschluss bedeutet haben muss.
Und trotzdem hat Beethoven in den darauffolgenden vierundzwanzig Jahren die unglaublichste Musik komponiert.
Das sollte doch jedem Mut machen. Und damit meine ich auch dich!
Die Sonate muss 1802/1803 entstanden sein.
Das war eine Zeit, die für Beethoven fürchterlich gewesen sein muss. In dieser Zeit ist das Heiligenstädter Testament entstanden.
https://de.wikipedia.org/wiki/Heiligenstädter_Testament
Zitat aus obigem Artikel, in Anführung das direkte Beethoven-Zitat.
Die ersten zwei Drittel der Schrift nimmt die Rechtfertigung Beethovens gegenüber seiner Mitwelt ein, der er zu verstehen gibt, dass er nicht „Feindseelig störisch oder Misantropisch“ sei, sondern dass: „muste ich früh mich absondern, einsam mein Leben zubringen“,[2] da er durch seine Taubheit „zurückgestoßen“ sei, denn es war ihm unmöglich kundzugeben: „sprecht lauter, schreyt, denn ich bin Taub“. Den Verlust seines Gehörsinns „der bey mir in einem Vollkommenern Grade als bey andern seyn sollte, einen Sinn denn ich einst in der grösten Vollkommenheit besaß, in einer Vollkommenheit, wie ihn wenige von meinem Fache gewiß haben noch gehabt haben“ zu entbehren schließt ihn von der Gesellschaft aus und er bittet: „drum verzeiht, wenn ihr mich da zurückweichen sehen werdet, wo ich mich gerne unter euch mischte, doppelt Wehe thut mir mein unglück“. Er vermerkt dann sein Erlebnis in Gegenwart von Ferdinand Ries, als er bei einer Wanderung die Schmach empfand: „aber welche Demüthigung wenn jemand neben mir stund und von weitem eine Flöte hörte und ich nichts hörte, oder jemand den Hirten Singen hörte, und ich auch nichts hörte“. Dies stürzte ihn in Verzweiflung und „es fehlte wenig, und ich endigte selbst mein Leben – nur sie die Kunst, sie hielt mich zurück“.
Es ist wohl inhaltlich begreifbar aber bleibt trotzdem nicht nachvollziehbar, was dieser gesellschaftliche Ausschluss bedeutet haben muss.
Und trotzdem hat Beethoven in den darauffolgenden vierundzwanzig Jahren die unglaublichste Musik komponiert.
Das sollte doch jedem Mut machen. Und damit meine ich auch dich!
diefrogg - 21. Feb, 22:18
Danke, Herr Steppenhund
Das ist sehr berührend! Das werde ich wohl noch ein paarmal lesen.
iGing - 22. Feb, 08:56
Immer öfter ertappe ich mich bei dem Satz: "Sie müssen bitte etwas lauter sprechen, ich versteh Sie sonst so schlecht." Sicher ist das ein durchaus altersüblicher Grad von nachlassendem Gehör, aber es lässt mich ein wenig die Problematik verstehen. Allerdings bin ich nicht mit einem schlechten Gewissen belastet, wenn ich das sage, und ich meine allen Ernstes, das sollten Sie sich wirklich abgewöhnen! Wenn der Andere weiß, dass bzw. warum er etwas lauter sprechen sollte, findet er auch gar nichts dabei und wird Ihnen einfach den Gefallen tun. Damit tut er sich ja auch selbst einen Gefallen, denn er will ja verstanden werden. Nur die eigenen Kinder meckern in so einem Fall.
diefrogg - 22. Feb, 14:46
Liebe Frau iGing ...,
da muss ich Ihnen jetzt einfach aus hundertfacher Erfahrung widersprechen. Wenn Sie dem Durchschnittsmenschen sagen, er soll bitte deutlich sprechen und einen dabei ansehen, dann hält der das im Schnitt zweieinhalb Sätze lang durch. Nachher vergisst er es wieder und nuschelt weiter. Da können Sie jeden Schwerhörigen fragen, er wird ihnen das bestätigen. Manchmal ist der gut Hörende auch in einer Situation, wo er gar nicht anders kann als zur Seite schauen. Der Buchhändler gestern war zum Beispiel dabei, eines meiner Bücher als Geschenk zu verpacken. Da konnte er mich gar nicht durchgängig ansehen. Sonst wäre die Verpackung nicht schön herausgekommen.
Mit einer schwerhörigen Person zu sprechen, kann das Gegenüber wirklich vor eine schwierige Herausforderung stellen. Meine Erfahrung ist: Die meisten Gesprächspartner empfinden diese Herausforderung als Zumutung und arbeiten daran, vielleicht auch ohne es zu wollen, die Schwierigkeit für sich zu reduzieren - zum Nachteil der Hörbehinderten Person, die dann die ganze Last des Problems trägt und unter Umständen nach zehn Minuten Gespräch schon nudelfertig ist.
Mit einer schwerhörigen Person zu sprechen, kann das Gegenüber wirklich vor eine schwierige Herausforderung stellen. Meine Erfahrung ist: Die meisten Gesprächspartner empfinden diese Herausforderung als Zumutung und arbeiten daran, vielleicht auch ohne es zu wollen, die Schwierigkeit für sich zu reduzieren - zum Nachteil der Hörbehinderten Person, die dann die ganze Last des Problems trägt und unter Umständen nach zehn Minuten Gespräch schon nudelfertig ist.
iGing - 22. Feb, 19:48
Das ist für mich nicht nachvollziehbar, dass jemand sich nicht auf eine schwerhörige Person einstellt, wenn er doch von genau dieser Person verstanden werden will. Aber da habe ich wohl einfach wirklich zu wenig Erfahrung, aus beiden Perspektiven.
diefrogg - 23. Feb, 16:03
Das wäre für mich ...
... auch nicht nachvollziehbar gewesen, als ich noch gut hörte. Darum schreibe ich ja darüber.
Ich muss aber beifügen: Ich habe ein paar Freundinnen und Freunde, die sich wirklich grosse Mühe geben, jederzeit und immer. Dafür bin ich sehr dankbar.
Ich muss aber beifügen: Ich habe ein paar Freundinnen und Freunde, die sich wirklich grosse Mühe geben, jederzeit und immer. Dafür bin ich sehr dankbar.
bonanzaMARGOT - 23. Feb, 14:13
Als Altenpfleger musste ich mich auf Schwerhörige einstellen. Mit der Zeit gewöhnte man sich das laute überdeutliche Sprechen derart an, dass man damit den Normalhörigen ausserhalb des Altenheims auf den Keks ging.
diefrogg - 23. Feb, 16:04
:-)
Das kann ich mir vorstellen. Du musst für normal Hörende quälend langsam gewesen sein.
bonanzaMARGOT - 24. Feb, 08:34
langsam bin ich von natur aus. es war eher die lautstärke.
C. Araxe - 23. Feb, 19:53
Hm ... ich glaube nicht, dass wenn geklärt ist, warum Wiederholungen, langsames Sprechen etc. wichtig sind, sich dem bewusst verweigert wird oder dieses als Zumutung empfunden wird. Zumindest was Gespräche betrifft, bei denen beiderseits Interesse vorhanden ist, was durchaus auch auf fremde Personen wie diesen Buchhändler zutrifft, selbst wenn das eher als Smalltalk gedacht war. Worauf ich hinaus will ist das, dass man auch bei bestem Willen automatisch in seine gewohnte Sprechweise zurückfällt, wenn man es nicht gewohnt ist. Und das hat dann nichts mit Ignoranz oder einem Nichternstnehmen zu tun. Es ist schade, wenn Sie sich dann gleich ausklinken und Ihre Schwerhörigkeit als Makel empfinden. Da gibt es sicher mehr Entgegenkommen als Sie denken und mit etwas mehr Selbstbewusstsein (Sie agieren auch oft sehr defensiv), ist sicher auch mehr in solchen Alltagssituationen drin. Die Erfahrungen, die Sie gesammelt haben, habe ich ganz gewiss nicht und somit mag das alles Nonsens sein, was ich hier so schreibe. Ich glaube aber dennoch, dass Sie mit einem offensiven Umgang mehr erreichen und das betrifft vor allem Sie selbst. (Sorry für meine direkten Worte, aber ich hoffe, Sie verstehen wie ich das meine.)
bonanzaMARGOT - 24. Feb, 08:44
ich kann diefrogg verstehen. ich wollte auch nicht immer meine "behinderung" erwähnen. tja, schwerhörigkeit sieht man nicht. da muss man immer darauf hinweisen..., außer bei den menschen, die einen kennen. der alltag ist voller smalltalks und flüchtiger begegnungen - soll man da jedesmal sagen "entschuldigen sie, ich bin schwerhörig, würden sie das für mich noch mal langsam und deutlich wiederholen"?
filterlos - 24. Feb, 20:57
Ich kann nicht für Frau Frogg sprechen, aber ihr Beitrag atmet, was ich für mich als nicht enden wollenden Kampf um nicht geglückte Kompensation bezeichen. Irgendwann ist man es müde, ständig die Kraft aufzubringen für sein eigenes Verstehen und das Verhalten der Gegenüber Verantwortung zu übernehmen. Ich gestatte mir das auch zunehmend. Wir leben in einer Welt, in der schnell und ständig Gesprochen wird. Kein Mensch mit normalem Gehör erfasst alles davon. Aber wenn das Verstandene langsam aber sicher zu einem Stummel zusammenschnurt - gerade im zufällig zustande kommenden "Small Talk" immer mehr zum "Small Understanding" wird - und jede Leichtigkeit verschwindet, saugt es mir wenigstens immer wieder mal die Kraft aus den Knochen, mich dem immer offensiv und mit glechbleibender Motivation zu stellen.
Dann ziehe ich mich auf mein Achtel Lorbeerblatt zurück und....laß sie reden.
Dann ziehe ich mich auf mein Achtel Lorbeerblatt zurück und....laß sie reden.
diefrogg - 25. Feb, 11:54
Danke allen für die Beiträge!
Insbesondere meinen beiden Vorrednern. Sie haben alles gesagt - es ist nicht nötig, dass ich mich weiter dazu äussere.
Vielleicht noch an Frau Araxe: Früher wusste ich auch immer sehr gut, was unsere schwerhörige Tante Luzia hätte tun können, damit es ihr (und uns) besser ginge (mein vorherhiger Beitrag). Damals hörte ich noch gut, und es ist eben so: Ich steckte nicht in ihrer Haut - und wenn man nicht in der Haut eines Betroffenen steckt, so braucht es schon ein gewisses Mass an Sensibilität, um nachvollziehen zu können, was in ihm vorgeht.
Vielleicht noch an Frau Araxe: Früher wusste ich auch immer sehr gut, was unsere schwerhörige Tante Luzia hätte tun können, damit es ihr (und uns) besser ginge (mein vorherhiger Beitrag). Damals hörte ich noch gut, und es ist eben so: Ich steckte nicht in ihrer Haut - und wenn man nicht in der Haut eines Betroffenen steckt, so braucht es schon ein gewisses Mass an Sensibilität, um nachvollziehen zu können, was in ihm vorgeht.
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