13
Mrz
2016

Es geht mir gut

Seit Wochen habe ich schwere Schwindelanfälle. Die Welt dreht sich vor meinen Augen, manchmal so schnell wie ein Windrad. Herr Menière erinnert mich daran, dass ich unter seiner Fuchtel stehe. Täglich mehrmals. Ich arbeite trotzdem. Ich gehe spazieren. Ich besuche Freunde. Ich ignoriere Herrn Menière. Würde ich das nicht tun, könnte ich das Haus nicht mehr verlassen.

Schwindelt mich am Morgen, dann begleitet mein Liebster mich zur Arbeit. Ich schlucke ein Motilium gegen den Brechreiz und nehme ihn am Arm. So gehen wir die zehn Minuten zum Büro. Niemand sieht mir etwas an. Im Büro sitze ich mich auf meinen Stuhl und funktioniere. Ich kann denken, ich kann einen Computer bedienen und ich kann sitzen. Meistens. Das reicht.

Neulich morgens war Herr T. nicht da. Die Welt drehte vor meinen Augen holprige Räder, aber ich musste trotzdem zu Arbeit. Ich kann jetzt nicht fehlen. Bei uns ist im Geschäft ist die Welt aus den Fugen geraten. Gespenster aus Zürich jagen durch die Gänge. Man sieht sie fast nie, doch eben haben sie den Chef weggefegt. Als nächstes werden sie ganze Büros zerschlagen. Kein Job ist sicher.

Aber es geht mir gut - doch, es geht mir gut.

"Soll ich ein Taxi nehmen?" fragte ich mich. Aber der Stress, auf ein Taxi zu warten, würde mir den Rest geben. Lieber zu Fuss gehen. Ich zog den Mantel, ging hinunter und wechselte - wie jeden Morgen - zuerst auf die Sonnenseite der Strasse.

Erst drüben merkte ich, dass ich besser auf der Schattenseite geblieben wäre - dort gibt es eine Mauer. An der hätte ich mich festhalten können, im Notfall. Zurückgehen? Nein. Die Strasse überqueren ist sturzgefährlich, weil man dabei den Kopf drehen muss. Besser den Kopf gerade halten und schauen, dass ich vorwärtskomme. Vorausschauend gehen, nennt man es wohl.

Nach 200 Schritten holte ich eine sehr beleibte Frau ein. Sie brauchte die ganze Trottoirbreite und watschelte. Gemächlich. Ich sage sonst keine solchen Sachen über Dicke, ich bin selber ein pummeliges Kind gewesen. Aber manchmal muss man die Dinge beim Namen nennen. Mir brach der kalte Schweiss aus - wie bei der ersten Fahrt auf dern Autobahn. Überholen? Nein, das erforderte einen schwierigen Balanceakt. Zudem würde sie sehen, dass ich schwankte. Sie würde denken, ich hätte zum Frühstück ein Halbeli Roten oder zwei Kafi Zwätschge gehabt. Es war einfacher, die leere Strasse nun doch wieder zu überqueren. Ich überquerte die Strasse.

Nach weiteren hundert Schritten ächzte mir ein Trottoirreinigungsfahrzeug entgegen. Es füllte den ganzen Gehsteig. Müssen die dieses blöde Trottoir heute reinigen?! Schon der Lärm der Kiste warf mich fast über den Haufen. Ich überquerte wieder die Strasse.

Nach 15 Minuten sass ich schweissgebadet in meinem Bürostuhl. Ich fühlte mich wie nach meiner ersten Fahrstunde. Aber ich funktionierte. Nach einer weiteren Viertelstunde war er Schwindel vorbei.

Es ging mir gut. Doch, es ging mir gut.

Das hier ist mein Beitrag zum dritten Wort von Dominik Leitners wunderbarem Projekt *txt - "Wahn".

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steppenhund - 13. Mär, 14:26

Obwohl ich mir vorstellen kann, wie man unter der Krankheit leidet, möchte ich den Text dahin kommentieren, dass man nicht einmal besonders marode sein muss, um Tage zu erleben, wo man genauso vor solchen Fragestellungen steht. Soll ich überqueren, bin ich eigentlich sicher auf meinen Beinen, etc. Und das ganz ohne Alkoholisierung.
Und wenn einem als Gesunder so ein Trottoirreinigungsfahrzeug entgegen kommt, hat man nicht einmal eine Ausrede, sich aufzuregen. Warum müssen die gerade jetzt reinigen? Teufel auch! Die haben 23 Stunden und 55 Minuten, um diese Stelle zu reinigen, an der ich jetzt gerade 5 Minuten vorbei komme.
Der Text ist gut geeignet, um zu veranschaulichen, mit welchen Schwierigkeiten man kämpfen muss. Denn normalerweise nimmt man ja die Beschwerden anderer Leute viel zu leicht.

diefrogg - 13. Mär, 17:09

Ja, das gibt es,

solche Tage, wo einem alles ein bisschen zu viel ist. Aber dieser Arbeitsweg hat mich doch vor nie dagewesene Herausforderungen gestellt, ich muss es ganz ehrlich sagen.
Falkin - 14. Mär, 12:03

Ich kenne es. Die Bemühung, die Versehrtheit zu kaschieren, um keine Angriffsfläche zu bieten. Ausflüchte zu er-finden, um im Alltag zu funktionieren, über-leben, ihn zu bewältigen, den Alltag als Kulisse zu sichern für ein erLeben, welches einer ansonsten den Boden unter den Füßen wegzöge. Ich kenne die Wut, die die Vorbehalte vollkommen korrekt assoziiert. Ich kenne die Verzweiflung, sich zurück in ein erträgliches Leben zu hangeln. Und auch das Wissen, dass diese Scharade der Haltung gilt. Der Würde. Die man sich selber entgegenbringt, wenn sich Abgründe auftuen, die für niemanden er-sichtlich und dennoch existentiell sind.

Mich hat dieser Text von Ihnen sehr berührt, Frau Frogg. Danke dafür. Und großen Respekt vor Ihrer Kraft und Entschlossenheit, mit der Sie Herrn Menière trotzen.

diefrogg - 16. Mär, 10:02

Danke, Frau Falkin!

Kluger Kommentar! Sehr klug! Es ist unmöglich, sich dieses Sich-Festklammern vorzustellen, wenn man es selber nicht erlebt hat. Manchmal denke ich: Ist das wirklich nötig? Ginge es nicht auch anders? Aber ich habe noch nicht herausgefunden, wie. Und eigentlich mag ich meine Arbeit.
sunsan2 - 18. Mär, 19:54

Liebevoll in die Arme ...

... will ich dich nehmen, die möglicherweise heimlich geweinten Tränen wegwischend und der möglichen Wut einen Sandsack zum Ablassen hinhängend, Zuversicht vermittelnd.

Selber so frisch kurz nach dir vom Menière mitten in der Nacht besucht und die ersten Tage am Jakobsweg im Mai 2015 noch in den Knochen fühlend - Tage in denen ich nicht mal den Kopf heben und keinen rechten Winkel gehen konnte - kann ich dich bis in die tiefste Tiefe verstehen. Ich lag am Dienstag da in der Nacht und dachte, dass ich jede/n verstehe, die oder der hier einen endgültigen Punkt setzt, so sehr graute mir im Moment vor dem vernichtenden Wirbelsturm-Zustand, den der Menière auslöst, so stark war die Verzweiflung des Augenblicks. Wie groß muss der Druck sein, wenn die berufliche Existenz auch noch gefährdet ist...

Mein Mitgefühl ist bei dir und ich wünsche dir vom Herzen, dass der Meniére wie eine Wirbelsturm weiterzieht, damit wieder Sicherheit und Stabilität Einzug halten können.

Susanne

P.S. Ich nenne den Menière nicht mehr Herr Menière. Mich wies mal ein Psychologe darauf hin, dass ich hier diskriminierend sei, denn in anderen Sprachen kann es ja auch ein weiblicher (oder sächlicher) Artikel sein, der vor dem Unwort Menière steht. Heute - mit etwas mehr Abstand - finde ich, dass der Hinweis des Psychologen hinsichtlich einer möglichen Diskriminierung wohl auch andere Ursachen auf zwischenmenschlicher Ebene gehabt haben könnte.... ;)

diefrogg - 20. Mär, 11:47

Liebe Susanne,

danke herzlich für Dein Verständnis. Es tut gut zu wissen, dass andere den Wirbelsturm auch kennen (auch, wenn ich ihn meinem ärgsten Feind nicht gönnen würde). Merkwürdigerweise bin ich im Allgemeinen recht guter Dinge. Ich glaube, ich habe in dieser Hinsicht eine gute Verdrängung. Aber eine gewisse Niedergeschlagenheit - wenn ich müde bin oder nicht aus dem Haus kann, wenn ich gerne möchte - will ich nicht in Abrede stellen.

Umso mehr hilft ein verständnisvolles Wort zum rechten Zeitpunkt.

Dir wünsche ich, dass Dich der Menière - männlich oder weiblich - möglichst oft in Ruhe lassen möge :-)
katiza - 21. Mär, 14:16

Verdammte Sch*****! Gonna make you sweat, stellt frau sich auch anders vor... Darf ich Ihnen kurz meinen Arm reichen?

diefrogg - 23. Mär, 11:38

:-) :-) :-)

Hab mich so an die neuen Smilies gewöhnt, dass sie mir hier jetzt fehlen. Köstlich, liebe katiza, köstlich! Und der Arm ist dankend angenommen. Nichts macht mich in jenen Tagen glücklicher als jemand, der mir ohne grosse Umstände den Arm reicht!
deprifrei-leben - 21. Mär, 18:47

Bei meiner Depression muss ich auch immer gegen die Erkrankung ankämpfen und darf nicht zuhause bleiben. Ich will meiner Trägheit nicht nachgeben. Wenn ich gegen meine Trägheit gewinne, dann geht es mir manchmal danach besser. Es ist wichtig aktiv zu sein im Leben. Finde ich gut, dass du dies tust.

diefrogg - 23. Mär, 11:41

Naja, das Verrückte ist:

Ich fühle mich überhaupt nicht träg. Ich möchte so viele Dinge tun wie seit Jahren nicht. Wenn ich so auf dem Sofa liege, weil ich nicht aufstehen kann, dann kann ich kaum warten, bis es wieder geht. Früher habe ich mich geschont, damit ich höre. Heute will ich einfach nur noch ein leben - und das heisst mithin arbeiten. Es macht mir keine Mühe, die Trägheit zu überwinden. Es macht mir Mühe, eingeschränkt zu sein.

Aber ich weiss, dass das bei einer Depression sehr anders ist. Ich wünsche Dir, dass es Dir oft gelingt ...
bonanzaMARGOT - 25. Mär, 16:29

verdammt!
gute besserung!!

diefrogg - 25. Mär, 19:25

Danke!

Der Arzt hat ein neues Medikament aus dem Hut gezaubert - mal schauen, ob es wirkt ...
deprifrei-leben - 10. Apr, 19:02

Wann kommt mal was neues? Sehne mich nach deinen Beiträgen?? Und wenn du magst gucke mal in meinem Blog vorbei.

diefrogg - 17. Apr, 11:02

Lieber depri-frei

Danke für Deine Nachricht. Bin immer noch Instagram-süchtig. Fang ja nicht an damit, es ist brandgefährlich :-)

Aber danke für die Ermunterung! Ich werde demnächst mal bei Dir vorbeischauen.
deprifrei-leben - 30. Apr, 18:38

Warum nicht. Geht mir auch so. Schreiben hilft.

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