800 Kalorien
Die Helfer dieser Welt sind zurzeit masslos überfordert, auch finanziell. Kürzlich hiess es bei uns am Radio, das UNO-Welternährungsprogramm müsse jetzt die Essensrationen für Syrien-Flüchtlinge kürzen: Fortan bekämen sie nur noch 800 Kalorien. Das sind etwa zwei Handvoll Haferflocken, heisst es. Betroffen sind vier Millionen Menschen. Es fehlt Geld für mehr.
Hier der ganze Bericht.
Am Tag nach dieser Meldung brach die Froggs zu einem opulenten Familientreffen in einem Viersternhotel im Südtirol auf. Jedes von uns nahm dort - vorsichtig geschätzt - zwischen 2500 und 3000 Kalorien täglich zu sich.
Ich weiss, es ist Miesmacherei. Aber die Meldung hat mich verfolgt. Seit den Schlankheitskuren meiner Teenager-Jahre weiss ich, wie viel 800 Kalorien sind: zu wenig zum Leben, zu viel zum Sterben. Der Magen ist hohl. Fahrradpedalen leisten den Beinen doppelt so viel Widerstand wie normal. Rennen? Eine Zumutung. Man würde am liebsten nur daliegen - aber dann würde der Kreislauf schlappmachen, und das Elend wäre komplett.
Mit einer merkwürdigen Mischung aus Dankbarkeit und schlechtem Gewissen betrachtete ich beim Essen unsere reich gedeckte Tafel - all die Schlutzen und Knödel und das Entrecôte. Vor dem Essen gingen wir jeweils ins hoteleigene Bad. Und meine 13-jährige Nichte entdeckte das Laufband im Fitnessraum. Laufen liegt ihr, sie gewinnt zu Hause immer das Schulhaus-Rennen, notfalls barfuss. Wir nennen sie deshalb manchmal auch liebevoll den Usain Bolt vom Lindenberg. Durch das Fenster des Fitnessraum sah ich ihr entrücktes Gesicht auf- und abwippen.
Einmal sagte sie: "Ich gehe jetzt laufen, damit ich nachher ohne schlechtes Gewissen so viele Kalorien essen kann."
Hier der ganze Bericht.
Am Tag nach dieser Meldung brach die Froggs zu einem opulenten Familientreffen in einem Viersternhotel im Südtirol auf. Jedes von uns nahm dort - vorsichtig geschätzt - zwischen 2500 und 3000 Kalorien täglich zu sich.
Ich weiss, es ist Miesmacherei. Aber die Meldung hat mich verfolgt. Seit den Schlankheitskuren meiner Teenager-Jahre weiss ich, wie viel 800 Kalorien sind: zu wenig zum Leben, zu viel zum Sterben. Der Magen ist hohl. Fahrradpedalen leisten den Beinen doppelt so viel Widerstand wie normal. Rennen? Eine Zumutung. Man würde am liebsten nur daliegen - aber dann würde der Kreislauf schlappmachen, und das Elend wäre komplett.
Mit einer merkwürdigen Mischung aus Dankbarkeit und schlechtem Gewissen betrachtete ich beim Essen unsere reich gedeckte Tafel - all die Schlutzen und Knödel und das Entrecôte. Vor dem Essen gingen wir jeweils ins hoteleigene Bad. Und meine 13-jährige Nichte entdeckte das Laufband im Fitnessraum. Laufen liegt ihr, sie gewinnt zu Hause immer das Schulhaus-Rennen, notfalls barfuss. Wir nennen sie deshalb manchmal auch liebevoll den Usain Bolt vom Lindenberg. Durch das Fenster des Fitnessraum sah ich ihr entrücktes Gesicht auf- und abwippen.
Einmal sagte sie: "Ich gehe jetzt laufen, damit ich nachher ohne schlechtes Gewissen so viele Kalorien essen kann."
diefrogg - 12. Okt, 15:22
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epper - 12. Okt, 20:52
Hungerkünstler
Die radikale Konsequenz aus dieser Melancholie ist in Franz Kafkas «Hungerkünstler» beschrieben, der in einer Welt wie dieser «nicht die Speise finden konnte, die (ihm) schmeckt.»
Oder ganz profan gesagt: Unser schlechtes Gewissen rettet keinem einzigen Menschen das Leben. Mein möglichst behutsamer Umgang mit den Belangen des Stoffwechsels, also wenig Fleisch, regional, biologisch, selber sammeln etc. ist ein völlig verkehrter Ansatz - das Problem ist ein Politisches: Die immense Ungerechtigkeit auf diesem Planeten. Es wäre mehr als genug für alle da. Despoten, Extremisten und eben auch die Führer der westlichen Welt leben gut mit diesem Unrecht.
Und zum Schluss: den Kindern sei alles verziehen. Vor allem, wenn sie uns so gute Pointen liefern.
Oder ganz profan gesagt: Unser schlechtes Gewissen rettet keinem einzigen Menschen das Leben. Mein möglichst behutsamer Umgang mit den Belangen des Stoffwechsels, also wenig Fleisch, regional, biologisch, selber sammeln etc. ist ein völlig verkehrter Ansatz - das Problem ist ein Politisches: Die immense Ungerechtigkeit auf diesem Planeten. Es wäre mehr als genug für alle da. Despoten, Extremisten und eben auch die Führer der westlichen Welt leben gut mit diesem Unrecht.
Und zum Schluss: den Kindern sei alles verziehen. Vor allem, wenn sie uns so gute Pointen liefern.
diefrogg - 13. Okt, 12:57
Hinreissend sind sie...,
meine Nichten! Wunderbar! Nie würde ich etwas auf sie kommen lassen!
Aber einmal abgesehen davon: Du kannst Dir gar nicht vorstellen, lieber epper, wie gut die Parabel vom Hungerkünstler meine Befindlichkeit in jenen Tagen umreisst (doch, vielleicht schon, sonst wäre Dir ja die Story von Franz Kafka nicht eingefallen).
Und Du hast recht: Unser schlechtes Gewissen rettet keinem Menschen das Leben - deshalb gelingt es mir normalerweise auch, in solchen Lebenslagen die Nachrichten vom Hunger anderer Menschen mühelos zu verdrängen. Wenn es um Syrien geht, liegen die Dinge etwas anders. Weil ich einmal in Aleppo gewesen bin und dort nach einem tausendfarbigen Sonnenuntergang mit Muezzingesang die Menschen einer kleinen Christengemeinde in ihre Kirche habe strömen sehen. Weil ich dort auf dem Land Kinder fotografieren durfte (wenn ich damals schon klug genug gewesen wäre, hätte ich mir wenigstens ihre Namen aufgeschrieben). Und weil ich in Damaskus das obligate Schachbrett mit Holz-Intarsien gekauft habe.
Manchmal hatte ich in jenen Tagen den Wunsch, dort zu sein und etwas ändern zu können, einen ganzen Sack voller Schlutzen mitzubringen vielleicht.
Aber einmal abgesehen davon: Du kannst Dir gar nicht vorstellen, lieber epper, wie gut die Parabel vom Hungerkünstler meine Befindlichkeit in jenen Tagen umreisst (doch, vielleicht schon, sonst wäre Dir ja die Story von Franz Kafka nicht eingefallen).
Und Du hast recht: Unser schlechtes Gewissen rettet keinem Menschen das Leben - deshalb gelingt es mir normalerweise auch, in solchen Lebenslagen die Nachrichten vom Hunger anderer Menschen mühelos zu verdrängen. Wenn es um Syrien geht, liegen die Dinge etwas anders. Weil ich einmal in Aleppo gewesen bin und dort nach einem tausendfarbigen Sonnenuntergang mit Muezzingesang die Menschen einer kleinen Christengemeinde in ihre Kirche habe strömen sehen. Weil ich dort auf dem Land Kinder fotografieren durfte (wenn ich damals schon klug genug gewesen wäre, hätte ich mir wenigstens ihre Namen aufgeschrieben). Und weil ich in Damaskus das obligate Schachbrett mit Holz-Intarsien gekauft habe.
Manchmal hatte ich in jenen Tagen den Wunsch, dort zu sein und etwas ändern zu können, einen ganzen Sack voller Schlutzen mitzubringen vielleicht.
katiza - 13. Okt, 15:51
epper - 13. Okt, 18:13
Gegen Pessimismus
Kein Trost für den Nahen Osten. Aber doch, was man good news nennt... «Sechs Gründe, warum der Hunger auf der Welt abnimmt
Die Zahl der Hungernden auf der Welt schrumpft schnell. Eine Überraschung? Nein, ein Trend der schon lange andauert.» http://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/wirtschaftspolitik/sechs-gruende-warum-der-hunger-auf-der-welt-abnimmt-13205739.html
Und lieber Gruess nach Lozärn !
Die Zahl der Hungernden auf der Welt schrumpft schnell. Eine Überraschung? Nein, ein Trend der schon lange andauert.» http://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/wirtschaftspolitik/sechs-gruende-warum-der-hunger-auf-der-welt-abnimmt-13205739.html
Und lieber Gruess nach Lozärn !
diefrogg - 14. Okt, 15:12
@katiza:
Schlutzen von Ihnen, frau katiza! Wenn sowas lese, dann kriege ich wirklich Appetit darauf, mein neuestes Projekt allmählich an die Hand zu nehmen! Ich melde mich auf Facebook, sobald ich soweit bin! "We Feed the World" habe ich gesehen - das kann einem wirklich den Appetit auf ALLES verschlagen. Das fand ich dann doch ein bisschen zu negativ, deshalb habe ich auf die anderen beiden verzichtet.
@epper: Ob wir der NZZ das alles glauben können? Die sehen das alles schon sehr anders als die Presse, die ich normalerweise so lese. Aber wer weiss - vielleicht stimmts. Wir wollen das beste hoffen und leben wie der Panther bei Kafka!
Dir auch einen Gruss! Ab wann residierst Du eigentlich im Schloss?
@epper: Ob wir der NZZ das alles glauben können? Die sehen das alles schon sehr anders als die Presse, die ich normalerweise so lese. Aber wer weiss - vielleicht stimmts. Wir wollen das beste hoffen und leben wie der Panther bei Kafka!
Dir auch einen Gruss! Ab wann residierst Du eigentlich im Schloss?
epper - 14. Okt, 20:39
en printemps…
Lieber nicht leben wie der Panther. Diese pathetische Freiheits-Ode an ein i m K ä f i g eingesperrtes Tier… Kafka hat definitiv die Ironie, die Rilke abgeht. Aber ich liebe beide!
Im Schloss – genauer in der Villa Ruffieux im Schlossgarten – bin ich April und Mai… Abstecher ins Wallis einplanen! Immer werde ich nicht auf Rilkes Spuren wandern…
Im Schloss – genauer in der Villa Ruffieux im Schlossgarten – bin ich April und Mai… Abstecher ins Wallis einplanen! Immer werde ich nicht auf Rilkes Spuren wandern…
diefrogg - 15. Okt, 21:03
Also, wenns um...
Panther geht, dann sind Rilke und Kafka wirklich ziemlich gegensätzlich. Und da ich im Moment das Ende der Stäbe nicht so richtig sehe, halte ich es mit Kafkas Panther: "dieser edle, mit allem Nötigen bis knapp zum Zerreißen ausgestattete Körper schien auch die Freiheit mit sich herumzutragen; irgendwo im Gebiß schien sie zu stecken; und die Freude am Leben kam mit derart starker Glut aus seinem Rachen, daß es für die Zuschauer nicht leicht war, ihr standzuhalten. Aber sie überwanden sich, umdrängten den Käfig und wollten sich gar nicht fortrühren."
Da ist sie: die Kraft, die Lust zu fressen - und gesehen werden - ja, gesehen werden!
Da ist sie: die Kraft, die Lust zu fressen - und gesehen werden - ja, gesehen werden!
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