23
Sep
2015

Die Kinder von Palmyra


Palmyra, 14. Oktober 1998

Dieses Bild habe ich selber gemacht, was erstaunlich ist. Denn ich hing an jenem Tag ziemlich in den Seilen. Ich hatte eine so genannte Reisedarmgrippe - harmlos, aber ich hatte doch die halbe Nacht auf der Toilette verbracht. Es war eine gute, westliche Toilette in einem Viersternhotel - erschöpft war ich trotzdem.

Ich würde gerne sagen, ich sei von den 2000 Jahre alten Tempelanlagen in Palmyra hingerissen gewesen. Ich würde sie gerne wenigstens in meiner Erinnerung mächtig fortleben lassen - jetzt, wo der IS sie offenbar zerstört hat. Aber gestehe: Ich schleppte mich zwischen den korinthischen Säulen dahin und tat einfach nur mein Bestes.

Viele meiner Reisegefährten kämpften mit ähnlichen Problemen. Eine Frau aus dem Aargau war so dehydriert, dass sie in Palmyra ins Spital kam und dort ein paar Stunden am Tropf hing. Offenbar tat ihr das gut. Nachher war sie wieder in anständiger Verfassung.

Noch mehr als mein Magen machte mir das schlechte Gewissen zu schaffen. Beim Aussteigen auf dem Car-Parkplatz waren wir sofort von einem Schwarm schmutziger, bettelnder Kinder umringt worden. Ich muss es jetzt einmal sagen: In Syrien gab es damals für mich Westlerin schockierend arme Menschen.

Auf die bettelnden Kinder hatte man uns vorbereitet. Wir sollten ihnen Papier und Schreibzeug geben - Sachen, die sie in der Schule gebrauchen könnten. Sonst würden sich die Eltern daran gewöhnen, von der Bettelei ihrer Kinder zu leben. Dann würden sie sie nicht mehr zur Schule schicken. So verteilte ich Zeichenstifte und zweifelte an der Weisheit meines Tuns. Sind Zeichenstifte ein Trost, wenn man als Kind ohne Nachtessen ins Bett muss?

Erst Jahre später habe ich gelesen, was uns damals niemand erzählte: Palmyra war auch eine Stadt des Grauens. Es gab dort ein berüchtigtes Gefängnis, in dem Diktator Hafiz al-Assad 1980 zwischen 500 und 1000 Insassen hinrichten liess (Quelle hier). Die meisten waren Muslimbrüder (Hier ein sehr informativer Bericht über die syrischen Muslimbrüder und darüber, was sie mit dem IS verbindet). Im Gefängnis wurde auch gefoltert - anständige Gerichtsverfahren gabs keine. Geschlossen wurde es erst kurz bevor im Mai 2015 der IS kam. Der hat den Knast mittlerweile auch gesprengt.

19
Sep
2015

Das Schweigen der Syrer


Assad-See: Der Teil des Euphrat, der Aleppo bis heute mit Wasser versorgt (Quelle: Wikimedia)

Am 10. Oktober 1998 zeigte uns der Reiseführer eine Sehenswürdigkeit an einem Fluss. Ich habe die Sehenswürdigkeit vergessen. Aber ich erinnere mich gut an den Fluss. Ein Rinnsal zwischen hohen Mauern. Es zog grüne Algenschlieren mit sich.

"Früher hat dieser Fluss die Grossstadt Aleppo mit Wasser versorgt", sagte der Fremdenführer. Aber er entspringe in der Türkei. Und 1952 hätten die Türken an seinem Oberlauf einen Damm gebaut. Sie hätten den Menschen von Aleppo damit buchstäblich das Wasser abgegraben. Seither komme das Leitungswasser in Aleppo vom Euphrat, sagte er und wies mit dem Zeigefinger gen Osten, wo der grosse Strom liegt.

Aha! Das Thema Wasserstreit! Endlich! Ich hielt meine Stunde für gekommen. "Bevor wir losreisten, las ich in der Zeitung, es könnte ein Wasserkrieg zwischen den Türken und den Syrern ausbrechen", sagte ich zum Reiseführer. "Was hat es damit auf sich?" Die Frage hatte uns Reisende doch mit Sorge erfüllt. Endlich würden wir Antwort bekommen, dachte ich. Aber ich irrte mich. Der Reiseführer brummelte ein paar gehässige Bemerkungen über die Türken. "Die stehlen unsere Kunst", schimpfte er. Aber er sagte nichts Bestimmtes über den angeblich drohenden Wasserkrieg.

Wusste er selber nichts? Wollte man uns Touristen nicht beunruhigen? Oder traf ich mit meiner Frage einfach auf das in Diktaturen übliche Schweigen? Letzere Frage stellte ich mir damals noch nicht. Ich war zu unbedarft.

Immerhin wusste ich, dass an der Südwestgrenze des Landes ein weiterer Konfliktherd schwelte. Bei der Einreise hatte man uns eingeschärft, das Land dort dürfe man in Syrien keinesfalls Israel nennen. Sondern nur Palästina. Die Syrer waren nicht gut auf die Israelis zu sprechen. Denn die hielten seit 1967 syrisches Gebiet besetzt - die Golanhöhen.

Was ich jetzt mit all dem sagen will? Nun, Syrien war schon damals ein Pulverfass. Es ist im Grunde nicht erstaunlich, dass es explodiert ist. Aber wie es passiert ist, hat auch mich überrascht.

Damals nahm ich das alles nicht sonderlich ernst. "Verstehe einer die Streitigkeiten der Syrer!" dachte ich mit jener touristischen Heiterkeit, mit der Obelix jeweils sagt: "Die spinnen, die Helvetier!" Mein Blick folgte dem Zeigefinger des Reiseführers und ging in die Ferne. Der Euphrat. Das Zweistromalnd. The Rivers of Babylon. "Fernweh erschafft immer neues Fernweh", schrieb ich in mein Tagebuch. Ich träumte von Bagdad. Noch wusste niemand, was wenige Jahre später dort geschehen würde.

Am nächsten Tag brachen wir Richtung Osten auf: nach Palmyra.

13
Sep
2015

Lexikon der Räusche

Mit meinem Syrien-Epos geht es hier so bald wie möglich weiter. Zuerst aber ein Abstecher in die neonwilderness, zum zwölften Wort der famosen Reihe *txt: "Rausch".


Der französische Poet Charles Baudelaire - was den Rausch betrifft, so hatte er den Durchblick (Quelle: veryimportantpotheads.com)

Enivrez-vous, befahl uns einst Charles Baudelaire - "berauscht Euch!" Baudelaire hat begriffen: Wenn wir nicht gerade gerade ums nackte Überleben kämpfen, brauchen wir den Rausch. Sonst lastet uns das Leben mit tödlicher Schwere auf den Schultern. Wir brauchen den Adrenalin-Kick, die Ekstase, den geistigen Höhenflug. Den Kater nehmen wir dafür in Kauf. Wenn die Sucht droht - naja, Schicksal. So könnte jeder von uns ein kleines Lexikon der Räusche schreiben. Baudelaire nennt den Wein, die Dichtung und die Tugend. Hier ist meins:

Alkohol-Rausch: Mit Nostalgie erinnere ich mich an die Wodka-Räuschchen, die ich ein paarmal in Russland hatte. Wodka macht in moderaten Mengen fröhlich und geistreich. Doch auch ein hübscher Weinrausch hat hat seine Qualität. Er lässt uns die ungeheure Tiefe von Dingen erkennen, die wir nüchtern gänzlich banal finden würden - und uns darüber in metaphysisches Gelächter ausbrechen.

Cannabis-Rausch: Nie mein Favorit - hier mehr dazu.

Kaffee-Rausch: Kaffee ist eine unterschätzte Droge. Wer es nicht glaubt, mache einen Entzug. Der erste Espresso nach zwei Tagen Kopfweh und Weltuntergang: Welch ein Genuss! Im Nu vertreibt er jede Granteligkeit und weckt in uns liebevolle Neugier auf die Welt.

Liebesrausch: Wir behaupten, die Liebe sei ein altruistisches Gefühl. Doch wenn wir uns verlieben, dann lieben wir oft unser schmerzhaft süsses Begehren mehr als sein Objekt. Verliebtheit macht schnell süchtig. Der kalte Entzug heisst Liebeskummer - die nachhaltigere Methode: Paarbeziehung, Zweierkiste oder Hochzeit. Da kommt dann im besten Fall die wahre Liebe.

Musik-Rausch: Dem lieben Gott kann auf Erden nur nahe sein, wer Musik hört. Deshalb sind 1000 Arten des Musik-Rausches bekannt. Zum Beispiel die Massen-Ekstase am Rock-Konzert; die Trance, wenn die eigene Stimme im Chor aufgeht; das einsame Hochgefühl auf YouTube.

Natur-Rausch: Wenn ich den Wald hochgekeucht bin, die Flecken der Herbstsonne auf dem dürren Laub gesehen habe und zuoberst über das Land blicke, dann fühle ich mich erhaben. Am nächsten Tag tun mir die Füsse weh - aber das ist kein Kater, denn ich habe Sport getrieben

Nikotin-Rausch: Diese Schwindel erregende Leichtigkeit im Kopf, dieser kurze Glücksmoment - dann der Kater: Kratzen im Hals und Schweratmigkeit.

Politischer Rausch: Man zelebriert das Wir-Gefühl, man erhitzt sich an Parolen. Man lässt sich von bodenständigen Rednern in Begeisterung versetzen. Man frönt süssen Glauben, dass Phrasen wahr werden, wenn möglichst viele sie wiederholen. Wir hatten geglaubt, nur die Musik (siehe Musik-Rausch) könne heute noch solche Massen-Räusche auslösen. Aber die Politik erlebt gerade ein Comeback als Rauschmittel. Nicht bei mir - Politik ist das einzige, was ich nüchtern und sachlich mag.

Schaffensrausch: Schriftsteller kennen sie - die heilige Ekstase beim Übertritt ins Reich der Fiktion. Journalisten kennen ihn - den wach haltenden Kick einer guten Story, einer Hammer-Nachricht. Aber, Warnung: Braucht Kraft und kann auf die Dauer gesundheitsschädigend sein.

Sport-Rausch: Siehe Natur-Rausch.

12
Sep
2015

Drei Syrer



Dieses Bild habe ich am 11. Oktober 1998 in einer der Toten Städte* in Syrien gemacht. Die drei Burschen huschten mit einer ganzen Kinderschar hinter uns her, als wir durch die Ruinen einer der Geistersiedlungen gingen. Alle Kinder trugen Schuluniformen, die Mädchen grüne Röcke und weisse Kopftücher. Sie kamen aus dem bewohnten Dorf in der Nähe.

Als ich aus einem der Häuser trat, standen die drei Knaben im Hof. Sie sahen meine Kamera und warfen sich in Pose. Sie wollten fotografiert werden. Es war ein Spiel. Ich wollte sie nach ihrer Adresse fragen und ihnen später Abzüge schicken - aber ich konnte kein Arabisch, und unser Fremdenführer war weit weg. Es blieb bei dieser flüchtigsten aller Begegnungen.

Die Buben sind heute um die 30, ihr Dorf ist Kriegsgebiet. Die Toten Städte neben ihrem Dorf sind auf der Liste des bedrohten Unesco-Weltkulturerbes. Einige der leeren Siedlungen seien in Rebellenhand, heisst es. In anderen habe man islamistische Plünderer gesehen. Über die Menschen im Dorf erfährt man nichts. Es waren einfache Leute. Wir sahen das Haus einer Familie. Sie wohnten in einem einzigen, grossen Zimmer mindestens zu Dritt. Sie hatten Oliven- und Kirschhaine, und zwischen den Felsen wucherten Feigenbäume.

Vielleicht sind die Jungs auf dem Bild Soldaten geworden, auf welcher Seite auch immer. Vielleicht hat der Krieg sie zu mordenden Bestein gemacht. Vielleicht auch nicht. Vielleicht haben sie junge Familien. Vielleicht sind sie tot. Vielleicht geflohen. Ich weiss es nicht. Aber wenn ich heute in diese Gesichter schaue, dann weiss ich eins ganz sicher: dass ich ihnen verpflichtet bin. Oder wenigstens ihren Brüdern und Schwestern und Kindern.

* Die Toten Städte sind um 1800 Jahre alte Steinhäuser. Einst haben dort reiche Christen gewohnt, Kirchen gebaut und ihren Wein und ihre Olivenöl in die halbe Welt exportiert. Im siebten Jahrhundert - noch vor der Eroberung durch die Muslime - verarmten sie und wanderten aus. Seither sind die Städte unbewohnt, Geisterhäuser aus Kalk auf roter Erde. Aber man konnte dort 1998 noch antike Ölpressen bestaunen.

9
Sep
2015

Wenn das Kopftuch fällt

Es war mein zweiter Abend in Syrien, 1998. Noch immer fragte ich mich: Wer trug die durchsichtigen Blusen, die tiefen Ausschnitte, die ich in den Schaufenstern der Altstadt von Aleppo gesehen hatte? Die meisten Frauen waren doch mit Kopftüchern und langen Mänteln unterwegs.

Nach Nachtessen stiegen wir Schweizer Hotelgäste in den Aufzug. Er hielt im ersten Stock, wo gerade eine Hochzeit stattfand. Drei Frauen stiegen zu. Es waren opulent geschmückte Prachtsweiber mit üppigen Formen, opulenter Haarpracht und tiefen, tiefen Ausschnitten. Die Haut über ihren Brüsten war mit Henna-Tattoos bemalt.

Eine peinliche Fahrt nach oben folgte. Die drei hatten offensichtlich geglaubt, sie seien en famille. Wir wussten alle nicht, wo wir hinsehen sollten. Ich bin fast sicher, dass sie ehrbare muslimische Hochzeitsgäste waren, Schwestern, Cousinen, Tanten des Brautpaars.

An dieser Stelle müsste ich etwas Relevantes über Muslime sagen - oder wenigstens über Musliminnen. Aber ich muss passen. Leider musste ich nach 9/11 von der Überzeugung abrücken, die Söhne und Töchter Allahs seien alle tolerant und friedfertig. Ich musste damals einsehen, dass es Muslime gibt, die den Westen hassen, und die vor dem Morden nicht zurückschrecken. Und dennoch: Seit ich 1998 in den Gassen Aleppos selbstbewusste Christinnen habe zur Kirche gehen sehen, kann mir eins kein Mensch mehr erzählen: dass Muslime per se intolerant sind.

Christen haben in Syrien 1300 Jahre lang mit Muslimen zusammengelebt. (Hier mehr dazu). Irgendwie ging das. Daraus habe ich zwei Dinge geschlossen:

1) "Die Muslime" gibt es genau so wenig wie "die Christen". Wenn jemand zum Mörder oder auch nur zum selbstgerechten Holzkopf wird, gibt es immer noch andere Gründe als die Religion.

2) Wenn das Kopftuch fällt, dann sieht der Mensch darunter oft anders aus als wir es uns vorgestellt haben. Dann entstehen neue Fragen. Und es lohnt sich, sie zu stellen. Wenn irgend möglich.
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