Vor Volksabstimmungen habe ich jeweils besonders viel zu tun. In der letzten Woche sogar rekordverdächtig viel. Zum Erstenmal seit meinem Hörsturz habe ich wieder Achtstundentage hingelegt. Vier. Und einen Sonntagnachmittag. Ich war himmelhoch jauchzend und zu Tode betrübt. Manchmal war ich froh, dass ich es noch - oder wieder - kann. Dann wieder frass Sorge an mir. Werde ich in der Lage sein, diesen Berg Arbeit anständig zu bewältigen? Würde ich es schaffen, ohne dass meine ohnehin in diesen kalten Novembertagen etwas labilen Ohren Schaden nehmen?
Neulich sagte ein Bekannter zu mir: "Ich weiss schon. Du gehörst zu den Leuten, die früher das Pferd geprügelt haben, bis es umfiel. Und jetzt weisst Du nicht, wie viel Du ihm noch zumuten kannst." Sowas darf nur jemand zu mir sagen, den ich sehr gut mag.
Ich bin froh, wenn nächsten Sonntag erst mal das Gröbste vorüber ist.
Eigentlich sollte dieser Eintrag so heissen: "Das Kind und die Kläranlage oder weshalb ich spaziere". Aber das hatte keinen Platz und sowieso: Weshalb sollte jemand einen Eintrag über das Spazieren lesen? Schon kleine Kinder wissen: Spazieren ist langweilig. Doch Frau Frogg findet neuerdings: Ist es nicht. Ich habe neulich für einen Spaziergang sogar eine Theatervorstellung geschwänzt. Da musste ich nach dem Sinn dieser Herumstreunerei zu fragen beginnen.
Noch dringender wurde die Frage, als ich dieser Tage meinen Gottenbuben Tim (5) in Luzern Nordwest unerhört im Kakao herumführte. Eigentlich wollte ich ihm das Stahlwerk auf der Emmenweid zeigen. Das sollte ein Kind sehen! Es ist eine gewaltige Fabrik - und man weiss nie, wie lange sie noch steht.
Mit etwas Glück kann man durch das offene Tor der Giesserei sehen, wie glutoranges Metall aus dem Hochofen kommt. Aber Tim und ich kamen nicht bis zum Hochofen. Es begann vorher zu regnen, und wir hatten keinen Regenschutz. Wir kamen nur bis zur Kläranlage ein paarhundert Meter davor. Natürlich erklärte ich dem Kind, was das da für übel riechende Wässerchen waren. Er war auch anständig beeindruckt. Aber ich fragte mich wieder einmal: Muss ein Kind solches Zeug ausgerechnet von seiner Gotte lernen?
Als uns der Regen zur Umkehr zwang, blieb uns die Wahl. Multiplex-Kino oder eine Fahrt im nächstbesten Bus. Tim ist für Autos, Züge, Busse jederzeit zu begeistern. Klar, was er wählte. Der nächstbeste Bus führte uns ausgerechnet nach Littau. Littau ist nicht der ansehnlichste Teil der Stadt Luzern. Wahrscheinlich waren wir die ersten Touristen, die je dorthin gefahren sind. Aber Tim klebte am Busfenster und war begeistert, sah alles und las jedes Ladenschild. An Abend erzählte er offenbar auch seiner Mama noch von Littau. Und von den zwei Tunnels auf der Rückfahrt mit dem Zug. Was diese eher amüsiert zur Kenntnis nahm. Wer verirrt sich schon nach Littau?
Da beschloss ich, hier eine Apologie des ziellosen Spaziergangs zu verfassen - damit ich nicht in den Verdacht gerate, dem Kind sinnloses Zeug beizubringen. Die Apologie ist kurz und bündig: Die Flaneure haben den Spaziergang einst zur Kultur erhoben. Flaneure liessen sich von ihren Beobachtungen begeistern, zum Schreiben anregen. Sie zelebrierten so die Stadt, die Moderne. Ziellosigkeit, sich treiben lassen, gehörte zum Konzept. Die Flaneure hätten sicher nichts dagegen gehabt, dass man Vororts-Verkehrsmittel in den Spaziergang einbezieht. Und dass man den unerforschten Siedlungsbrei der Vororte für seine Ausflüge wählt, wenn man keine Grossstadt zur Verfügung hat. Und heute beim Spazieren fiel mir ein geistiger Grossvater meiner Spaziergänge ein, auf den ich besonders stolz bin: Robert Walser. Seine Spaziergang-Schilderungen sind verspielte Auseinandersetzungen mit der Welt - zum Beispiel mit sozialen Unterschieden und wie sie markiert werden.
Und inzwischen bin ich zur Überzeugung gelangt: Kinder sind die besten Flaneure. Sie haben noch keine festgefahrenen Sehgewohnheiten.
Frau Walküre, Sie haben mich inspiriert. Eben habe ich meine Wohnung einer gründlichen Staubsauger-Session unterzogen - und dabei die ganze Zeit an Ihren Kommentar von gestern Abend gedacht. Über Verspiesserung. Oder, wie es auf Schweizerdeutsch etwas harmloser heisst: über Biederkeit.
Die junge Frau Frogg wollte um keinen Preis bieder sein. Sie nannte sich einen Freak, war stolz darauf und steckte viel Aufwand in eine freakiges Erscheinungsbild. Es war eine andere Art von sozialem Aufsteigertum. Freaks hatten in der Hierarachie der Jugend einen höheren Rang als Streber und Spiesser.
So in den Mittdreissigern begann ich dann zu behaupten, biedere Leute gäbe es gar nicht. Ich stritt sogar mit meinem Freund English darüber. Vielleicht hatte es damit zu tun, dass ich selber Züge der Verspiesserung an mir zu entdecken begann. So war ich dankbar, nach langen Schwierigkeiten bei der Arbeitssuche und zweijähriger Malocherei bei einem "linken" Protestblatt endlich bei einem auflagenstarken Magazin zu arbeiten - auch wenn ich es heute noch gerne "Brav & Bieder" nenne. Ich schätzte die Arbeit dort vor allem wegen der Anständigkeit, mit der man miteinander umging.
Ausserdem hatte ich herausgefunden: Wenn man lange genug mit Leuten spricht, dann haben auch die Farblosesten, Wohlanständigsten ein paar unglaubliche Geschichten auf Lager - oder wenigstens ein total schräges Hobby.
Und der Weg von English schien mir auch nicht so erstrebenswert. Er legte im Beruf eine Bilderbuch-Karriere hin. Heute ist er einer jener Business-Tramps, die die vorderen Teile der Flugzeuge über Europa bevölkern. Privat erhielt er sich jedoch ein gewisses Mass an Schrägheit mit einem stets ziemlich hohen Alkoholpegel, einer in meinen Augen ungesunden Bindung an seine Mutter und lauter merkwürdigen Frauengeschichten. Mein Bruder, der nach gängigen Standards eher bieder ist (einer von uns musste es ja sein) sprach stets mit einer Mischung aus ein wenig Mitleid, etwas Bewunderung und viel Verwunderung von ihm. Er war der erste, der entdeckte, dass lebenslängliche Unangepasstheit auch eine gewisse Tragik hat.
Nach dem Klassentreffen von neulich hatte ich den Eindruck, dass das Spiessertum der anderen mit etwas ganz anderem zu tun hat: Damit, dass jemand den Anschein macht, als zähle er sein ganzes Leben nur die heiteren Stunden - bis ihn das viele Licht blind gemacht hat. Damit, dass jemand so lange lächelt, bis aus der fröhlichen Miene eine Maske wird. Damit, dass man einander spätestens nach fünf Minuten nichts mehr zu sagen hat. Solche Leute gab es an unserem Klassentreffen natürlich auch - deshalb verstehe ich durchaus, was Sie meinen, Frau Walküre.
Aber hat man nicht auch das Recht auf seine Geheimnisse - sogar jenen Leuten gegenüber, mit denen man erwachsen geworden ist?
Alan de Botton sagt hier, man solle Klassentreffen meiden - weil dort der Neid regiere. Weil dort jeder jeden nur an dem messe, was er karrieremässig erreicht hat.
Ich glaubte de Botton und fürchtete mich vor unserem Klassentreffen. All diese Ärzte und Juristen! Wie würde ich denen meinen Job erklären? Wie würde ich rechtfertigen, dass ich meine reichliche bemessene Freizeit mit Spaziergängen und Prokrastination am Computer verbringe. Und dass ich... ähm... lieber den billigeren Rioja als die schöne Flasche Amarone hätte.
Aber ich hatte vergessen, wie meine Klasse gewesen ist. Bei uns sind immer diejenigen am coolsten herübergekommen, die sich nicht gross um dieses ganze Doktortitel-Einfamilienhäuschen-Grossesauto-Kinderkriegen-Getue scherten. Und am Samstag stellte sich heraus: In dieser Hinsicht hatte sich nichts geändert. Hier war nicht das Erlangen von Besitz und Status ein Thema. Hier war es die Sorglosigkeit, die Eindruck machte. Ein paar Quotes gefällig?
Undine, Künstlerin und Übersetzerin (die ihren Sohn in Kolumbien zur Welt gebracht und viele Jahre dort gelebt hat): "Weisst Du, in Kolumbien sagt man: 'Jedes Kind kommt mit einem Laib Brot unter dem Arm zur Welt'."
Helene, Zeichenlehrerein, eben von einem halbjährigen, anscheinend in Müssiggang verbrachten Urlaub im Süden zurückgekehrt: "Ich musste einfach weg. In der Schweiz kannst Du nicht nicht arbeiten. Da gerätst Du unter einen solchen Druck... da habe ich gekündigt und bin weggefahren."
Theodor, Jurist mit einem Juristen-Job, hat die Normalität auf eine andere Art verweigert. Als Maturand war er ein wandelnder Hungerturm. Er schien sich von Zigaretten und Bier zu ernähren. Er ist, naja, wie soll ich sagen... etwas korpulent geworden. Und, weiss Gott: Er hat sich seinen zwischen Zynismus und Zärtlichkeit oszillierenden Humor bewahrt. Irgendwann an jenem Abend wurde mir klar, dass ich diesen Humor seit zweieinhalb Jahrzehnten vermisse.
Und: Ich kam mir fast ein wenig bieder vor.
Nein, ich will meine Kollegen von einst nicht idealisieren. Ich meine: Bei unseren Lehrern galten wir zwar als aussergewöhnlich liebenswürdige und intelligente Klasse. Sie steckten Schüler zu uns, die woanders gemobbt wurden. Bei uns wurde niemand gemobbt. Aber Spannungen gab es da durchaus. Nach der Matura war mir zumindest, als würde eine Art innerer Druck uns in alle Himmelsrichtungen schleudern. Naja, einige blieben befreundet. Aber gehörten wir je wirklich zusammen? Ich glaube nicht. Ich weiss nur: Am Ende des Abends war ich seltsam froh, wieder zu Herrn T. zurückkehren zu können.
Und doch: Es war ein schöner Abend. Theodor kam für den köstlichen Amarone in unserer Ecke auf.
Heute, kurz nach 16 Uhr. Hinter uns leuchtet die Wiese smaragdgrün in der sinkenden Sonne. Neben uns ein Bahndamm. Hobby-Schafzüchter Kari (71) erzählt vom Hochwasser 2005: "Ich hätte nie gedacht, dass das Wasser so hoch kommen würde", sagt er, "Als es kam, stand ich in meinem Haus vor dem Kellerregal. Ich stapelte die Vorräte von den unteren auf die oberen Regale. Schliesslich stand mir das Wasser am Bauchnabel. Da wusste ich, dass ich aufhören musste. Ich ging die Treppe hoch. Hinter mir knallte das Wasser die Kellertür zu. Wäre ich noch drin gewesen, ich hätte sie nicht mehr aufbekommen. Dann wäre ich jetzt nicht hier."
Schwierig zu erklären, wie ich an diesen Tisch auf der Wiese gekommen bin. Marcel (55) schenkt mir eine zweite Tasse Kaffee ein. Der dritte Mann hier ist bestimmt bald 80. Sie sprechen den Dialekt vom Land. Gleich werden sie "die Zeitung" - solid bürgerlich - ein "linkes Blatt" schimpfen.
Ich gehöre nicht hierher. Ich sollte im Zug nach Solothurn sitzen. Ich sollte mit Herrn T. ins Theater. Er wollte, dass ich mitkomme. Emilia Galotti. Und, ja, ich wäre neugierig darauf gewesen, was man in diesen finsteren Zeiten aus dem Aufklärungs-Klassiker machen kann. Aber es gehört zu den Dingen, die die Krankheit an mir verändert haben: Ich habe eine Abneigung gegen abendliche Zugreisen. Nichts schlimmeres als ein Hörsturz in einem vollgepferchten Zug!
Und noch etwas ist anders als früher. Auch das verstehe ich nicht ganz. Aber egal. An einem Tag wie heute vergesse ich, dass ich einmal ein kulturinteressierter Mensch gewesen bin. Ich will nur noch hinaus an die Sonne. So zog ich heute Morgen die Wanderschuhe an und bestieg einen Vorstadt-Hügel, der den passenden Namen "Sonnenberg" trägt.
An seinem hinteren Ende hört die Stadt auf, und das Land beginnt. Von hier stieg ich hinunter.
Kurz vor dem Vorstadt-Bahnhof kam ich am Waldrand mit einem Fremden ins Gespräch. Das war Marcel, und es stellte sich heraus, dass er einen pensionierten Berufskollegen von mir kannte. Hobby-Schafzüchter Kari eben. "Hey, er steht gleich da drüben auf der Wiese hinter dem Bahndamm!" sagte Marcel. So kam es, dass ich ein paar Dinge tat, die ich früher nie getan hätte. Ich stieg über einen Vorstadt-Bahndamm. Ich trank mit drei alten Männern auf einer Wiese Kaffee.
Kari erzählt weiter vom Hochwasser: "Auf der Wiese hier lag ein halber Meter Schlamm und Kies. Der Fluss hat alles überschwemmt." Das ist ziemlich erstaunlich. Denn der Fluss liegt zweihundert Meter weiter drüben, hinter dem Bahndamm. Und der ist einen Meter hoch. Aber eben: Es war ein gewaltiges Hochwasser. Der Kleine Fluss donnerte wie ein Tsunami über die Ebene. Kari erinnert sich noch genau. "Es war am 21. August, und das Wasser kam gegen neun Uhr abends."
Ich war seltsam wach, seltsam heiter. Vielleicht enthielt Marcels Kaffee mehr Koffein als ich gewohnt bin. Ein paarmal dachte ich an Emilia Galotti. War ich am richtigen Ort? Ich wusste es nicht.