5
Nov
2010

Als das Hochwasser kam

Heute, kurz nach 16 Uhr. Hinter uns leuchtet die Wiese smaragdgrün in der sinkenden Sonne. Neben uns ein Bahndamm. Hobby-Schafzüchter Kari (71) erzählt vom Hochwasser 2005: "Ich hätte nie gedacht, dass das Wasser so hoch kommen würde", sagt er, "Als es kam, stand ich in meinem Haus vor dem Kellerregal. Ich stapelte die Vorräte von den unteren auf die oberen Regale. Schliesslich stand mir das Wasser am Bauchnabel. Da wusste ich, dass ich aufhören musste. Ich ging die Treppe hoch. Hinter mir knallte das Wasser die Kellertür zu. Wäre ich noch drin gewesen, ich hätte sie nicht mehr aufbekommen. Dann wäre ich jetzt nicht hier."

Schwierig zu erklären, wie ich an diesen Tisch auf der Wiese gekommen bin. Marcel (55) schenkt mir eine zweite Tasse Kaffee ein. Der dritte Mann hier ist bestimmt bald 80. Sie sprechen den Dialekt vom Land. Gleich werden sie "die Zeitung" - solid bürgerlich - ein "linkes Blatt" schimpfen.

Ich gehöre nicht hierher. Ich sollte im Zug nach Solothurn sitzen. Ich sollte mit Herrn T. ins Theater. Er wollte, dass ich mitkomme. Emilia Galotti. Und, ja, ich wäre neugierig darauf gewesen, was man in diesen finsteren Zeiten aus dem Aufklärungs-Klassiker machen kann. Aber es gehört zu den Dingen, die die Krankheit an mir verändert haben: Ich habe eine Abneigung gegen abendliche Zugreisen. Nichts schlimmeres als ein Hörsturz in einem vollgepferchten Zug!

Und noch etwas ist anders als früher. Auch das verstehe ich nicht ganz. Aber egal. An einem Tag wie heute vergesse ich, dass ich einmal ein kulturinteressierter Mensch gewesen bin. Ich will nur noch hinaus an die Sonne. So zog ich heute Morgen die Wanderschuhe an und bestieg einen Vorstadt-Hügel, der den passenden Namen "Sonnenberg" trägt.

sonnnenberg_littau 002

An seinem hinteren Ende hört die Stadt auf, und das Land beginnt. Von hier stieg ich hinunter.

Lehn, Kriens, Switzerland

Kurz vor dem Vorstadt-Bahnhof kam ich am Waldrand mit einem Fremden ins Gespräch. Das war Marcel, und es stellte sich heraus, dass er einen pensionierten Berufskollegen von mir kannte. Hobby-Schafzüchter Kari eben. "Hey, er steht gleich da drüben auf der Wiese hinter dem Bahndamm!" sagte Marcel. So kam es, dass ich ein paar Dinge tat, die ich früher nie getan hätte. Ich stieg über einen Vorstadt-Bahndamm. Ich trank mit drei alten Männern auf einer Wiese Kaffee.

Kari erzählt weiter vom Hochwasser: "Auf der Wiese hier lag ein halber Meter Schlamm und Kies. Der Fluss hat alles überschwemmt." Das ist ziemlich erstaunlich. Denn der Fluss liegt zweihundert Meter weiter drüben, hinter dem Bahndamm. Und der ist einen Meter hoch. Aber eben: Es war ein gewaltiges Hochwasser. Der Kleine Fluss donnerte wie ein Tsunami über die Ebene. Kari erinnert sich noch genau. "Es war am 21. August, und das Wasser kam gegen neun Uhr abends."

Ich war seltsam wach, seltsam heiter. Vielleicht enthielt Marcels Kaffee mehr Koffein als ich gewohnt bin. Ein paarmal dachte ich an Emilia Galotti. War ich am richtigen Ort? Ich wusste es nicht.

2
Nov
2010

Im Spital

Vor einem Jahr war ich im Spital. Es ist nicht eine Zeit, an die ich mich gern erinnere. Und doch: Der letzte Herbst hat mein Leben so radikal verändert, dass diese Tage erinnert sein wollen. Schon seit September habe ich düstere Déjà-vus. Ich sitze mittags mit meinen Kollegen in der Cafeteria. Draussen wirft die Sonne hartes, blaues Licht auf die Strasse. Und plötzlich erinnere ich mich an jenen Tag vor einem Jahr, als ich am selben Platz sass. Die Sonne schien genau gleich und dann füllte das Dröhnen meine Ohren und ich konnte meine Kollegen nicht mehr reden hören. Mir wird ganz eng im Hals, wenn ich daran denke.

Dennoch spiele ich die Erinnerung immer wieder durch. Etwas in mir will so erreichen, dass ich weniger entsetzt sein werde, wenn es das nächste Mal passiert. Aber bin nicht sicher, ob das geht.

31
Okt
2010

Sogar der Pfarrer weinte

Wenn von Beerdigungen die Rede ist, fällt mir immer jene von Onkel Jakob ein. Das war nicht nur ein schönes Begräbnis. An jenem Tag passierte sogar ein Wunder. Doch der Reihe nach.

Onkel Jakob starb in einer heissen Juliwoche 2006, kurz vor seinem 70. Geburtstag. Tante Magda bestellte mich für den Nachruf. Deshalb bekam ich die Vorbereitungen live mit.

Onkel Jakob starb auf seinem Bauernhof weit, weit hinten im Kanton. Die - selbstverständlich katholische - Kirche steht dort noch im Dorf, und es gibt dort Dinge zwischen Himmel und Erde, die ein Agglo-Mensch fast nicht begreifen kann.

Zwei Tage vor der Beerdingung stritten die Cousinen und der Cousin. Es ging um das Opfer. Für alle, die mit den Begrifflichkeiten einer katholischen Messe nicht vertraut sind: Kurz vor der Kommunion lässt der Pfarrer jeweils zwei Körbchen unter den Versammelten herumreichen. Jeder legt ein paar Münzen oder auch ein Nötli hinein. Das Geld, das so zusammenkommt, heisst "das Opfer" und wird einem guten Zweck gespendet. An einer Beerdigung dürfen offenbar die Trauernden über die Verwendung bestimmen.

Cousine Claire sagte: "Papi liebte Vögel. Die Spende sollte der Vogelwarte zugute kommen." Cousin Moritz war anderer Meinung. "Wir sollten sie der Kirche geben", sagte er, "Du weisst doch: Die Renovationsschuld ist immer noch nicht abgezahlt." Die beiden anderen Cousinen und Tante Magda waren unentschlossen. Eine Stunde lang ging es zu und her wie in einem Parlament. Dann gab es einen Kompromiss: Die eine Hälfte des Opfers sollte der Vogelwarte zugute kommen. Die andere der Kirche.

Die Beerdigung war an einem schwülen Tag. Bleischwer lag die Luft auf dem Dorf. Nie werde ich den Weinkrampf der hoch schwangeren Cousine Luzia vergessen. Sonst lief alles gut. Auch das Opfer. Der Pfarrer liess die Körbchen herumreichen und verkündete den Verwendungszweck der Spende - wobei er die Idee mit der Vogelwarte Sempach ein bisschen ins Lächerliche zog. Was ich nicht ganz in Ordnung fand. Aber wir waren hier auf dem Land. Ich musste nicht alles verstehen.

Dann war die Messe vorbei. Die Männer trugen den Sarg hinaus. Über dem Tal kündigten graue Wolken ein baldiges Unwetter an. Die Trauergemeinde war gross. Es dauerte eine Weile, bis alle vor dem offenen Grab standen. Dann wurde es still. Ganz still.

Genau in diesem Moment wirbelte ein halbes Dutzend Mauersegler übers Kirchdach auf den Friedhof. Laut jubilierend zogen die Vögel ein paar Kreise über dem Sarg von Onkel Jakob.

Es war phänomenal. Kein Auge blieb trocken. Sogar der Pfarrer weinte.

Dann verschwanden die Vögel wieder, wie sie gekommen waren. Der Pfarrer sagte mit brüchiger Stimme: "Die haben sich jetzt für das Opfer bedankt!"

30
Okt
2010

Bericht aus der Kampfzone

Eben komme ich von der Demo zämestah in Bern zurück.

Zwei Zitate aus den Reden:

"Bald wird niemand mehr für die Invalidenversicherung bezahlen wollen. Denn wenn man sie braucht, ist sie nicht mehr da." Peter Wehrli, Zentrum für selbstbestimmtes Leben.

Katharina Prelicz ihrerseits, Grüne Nationalrätin, berichtete von ihrer Arbeit in der Personalabteilung einer grösseren Firma in den neunziger Jahren. Allmählich seien die Jobs für aus gesundheitlichen Gründen leistungsschwächere Mitarbeiter verschwunden. "Ich bekam von der Firmenleitung dann jeweils den Auftag: 'Melden Sie diese Leute bei der IV an'. So war das damals. Es ist auch heute noch so." (Nur eine Rente bekommt heute keiner mehr einfach so, weil er über 50 und seinem Arbeitgeber zu krank ist).

Die Forderung: Die Arbeitgeber sollen per Gesetz dazu veranlasst werden, Arbeitsplätze für Behinderte zu schaffen. Frühestens dann soll sich die Politik Gedanken über die Streichung von Renten machen. Besser noch wäre eine gerechte IV.

Ich war angenehm überrascht, dass unter den gegenwärtigen politischen Vorzeichen überhaupt ein paar Unentwegte sich darüber Gedanken darüber machen, wie eine faire Invalidenversicherung aussehen könnte. Es waren nicht sehr viele. Ein paarhundert Köpfe. Es dürfen ruhig noch mehr werden!

Edit: Mehr über die Demo bei Mia.

Und jetzt zur Auflockerung ein schön kitschiger Soundtrack zu Halloween:

25
Okt
2010

Noch katholisch

Frau Täuschblume hat mich neulich gefragt, warum ich noch katholisch bin. Hier ist meine Antwort: Wenn die katholische Kirche eine politische Partei wäre, wäre ich schon längst aus ihr ausgetreten. Ich finde die Politik des Papstes reaktionär und menschenfeindlich. Aber die katholische Kirche ist keine politische Partei. Sie ist viel mehr.

Ich kann eigentlich nur mit einer Geschichte erklären, warum ich noch katholisch bin und es wohl auch bleiben werde.

Vor ein paar Jahren war ich mit Herrn T. an der Beerdigung eines jungen Mannes. Der Mann war Dachdecker gewesen, kaum aus der Lehre und bei einem Arbeitsunfall ums Leben gekommen. Es war ein erschütternder Abschied. Er war konfessionslos gewesen. Die Beerdigung hielt deshalb ein bärtiger Herr von einem Verein für Konfessionslose ab. Er tat es mit Anstand und Würde. Er zitierte ein bisschen Dostojewski und ein paar so genannte Indianer-Schriften. Oh, nichts gegen Dostojewski! Aber all diese Texte schienen mir so dünn. So austauschbar wie Blätter im Herbstwind. Ich flüsterte Herrn T. zu: "Versprich mir eins: Falls ich vor Dir sterbe, dann sorg bitte dafür, dass an meinem Grab ein anständiges Vaterunser gebetet wird!" Dieses Gebet schien mir in jenem Momant das einzige, was der Endgültigkeit der offenen Grube etwas Ewiges entgegen setzen konnte - oder wenigstens eine sehr, sehr lange Geschichte.

Ich stellte fest: Ich brauche das Christentum. Nicht, weil ich an Gott glaube. Ich glaube nur an manchen Tagen an Gott. Und rein theoretisch könnte ich das auch ohne Kirche. Natürlich würde mich nichts daran hindern, reformiert zu werden oder einer Freikirche beizutreten. Aber warum auch? Die katholische Kirche ist die Geschichte meiner Familie. Ihre Geschichte durchtränkt den Boden, auf den ich täglich meine Füsse stelle. Und als politische Parteien sind alle anderen Kirchen auch nicht besser die von Rom.

Ich bin nicht sicher, dass der Papst auf Katholikinnen wie mich gewartet hat. Ich meine: Mein ganzes erwachsenes Leben ist ein einziger Verstoss gegen die katholische Sexualmoral. Zum Beispiel lebe ich seit zehn Jahren mit einem Mann in so genannter Sünde. Er ist wenigstens Katholik ;) Aber ich gehe besser nicht beichten - ich würde wohl sonst nie mehr aufhören können, Buss-Vaterunsers zu beten. Und überhaupt habe ich nicht das Gefühl, etwas Unrechtes zu tun. Ja. Und manches aus meiner Vergangenheit fühlt sich an wie die Rache für das, was sie meiner Mutter getan haben.

Ob das kein Grund zum Austreten ist? Ich finde nicht. Die Kirche ist für mich ein bisschen wie ein manchmal fieser, aber ziemlich starker älterer Bruder. Man liebt ihn, man hasst ihn, aber man hat ihn und kann es nicht ändern.

Und dann tut die Kirchgemeinde meiner Stadt mit meinen Kirchensteuern Dinge, die ich ziemlich gut finde: in der Gassenarbeit und in der Integration von Ausländern. Und manchmal wettert sie laut und deutlich gegen den Papst.
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Journal einer Kussbereiten

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