9
Sep
2018

Hoffnung

Es war an einem ganz gewöhnlichen Freitag, am 24. August. Als ich nach der Arbeit nach Hause kam, kam Herr T. aus seinem Büro. Das tut er sonst nie. Er bleibt sonst immer im Büro sitzen, ich stelle mich in den Türrahmen und wir reden. Aber diesmal kam er eigens heraus, und er sagte: "Du, Lena Wechsler hat angerufen. Es ist etwas Schlimmes passiert."

Es klang merkwürdig sachlich. Aber wenn jemand hierzulande sagt: "Es ist etwas Schlimmes passiert", dann muss man sich auf Tote oder Schwerverletzte gefasst machen.

Lena ruft mich sonst nie an. Wenn sie es tut, dann kann es nur wegen Andreaszwei sein. Andreaszwei ist ihr Ex und mein geliebter Spaziergängerkumpel, seit vielen Jahren. Es gibt nicht viele Menschen, die mir vertrauter sind. Es ist ein merkwürdiger Moment. Ich stehe neben mir und kann mir dabei zuschauen, wie ich warte, bis Herr T. den Hammer niedersausen lässt: "Andreaszwei hat einen schweren Herzinfarkt gehabt. Er liegt im Kantonsspital. Er lebt, aber sie mussten ihn lange reanimieren. Sie wissen nicht, ob er überlebt - und die Chance, dass er je wieder ein normales Leben führen wird, ist sehr klein."

Ich war müde und hungrig, und ich sagte: "Ich muss erst einmal etwas essen."

Aber schon beim zweitletzten letzten Bissen begannen die Tränen zu rollen. Ich rechnete nach. Ich kenne ihn seit 1994. Seit 24 Jahren. Noch am 11. August waren wir zusammen unterwegs gewesen, ein leichter Spaziergang im Eigenthal. Zu leicht für unsere Verhältnisse, auf seinen Wunsch. Eigentlich ahnte ich, dass etwas nicht stimmte. Aber er sagte, er habe bloss Rückenschmerzen. "Geh zum Arzt", sagte ich noch, bevor er bei der Kantonalbank aus dem Bus stieg. Aber wer rechnet damit, dass einer gleich einen Herzinfarkt macht? Er ist ja noch nicht mal 60.

In der ersten Woche weinte ich viel. Ich ging in die Kirche und zündete Kerzchen an und betete. "Leb!" sagte ich in Gedanken zu ihm.

Er lebt. Vor einer Woche kam er zu sich. Alle sprachen von einem Wunder. Als ich ihn am letzten Dienstag auf der Intensivstation besuchte, war er fast schon sein altes Selbst. Er hing an einem Dutzend Drähten und Schläuchen und konnte kaum sprechen. Aber er lächelte, als ich sagte, ich wolle bald wieder mit ihm spazieren gehen.

Seither hat es Rückschläge gegeben. Er hat furchtbare Schmerzen. Aber ich sage gewiss alle zwei Stunden in Gedanken zu ihm: "Leb Andreas. Leb."
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Journal einer Kussbereiten

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