9
Sep
2015

Wenn das Kopftuch fällt

Es war mein zweiter Abend in Syrien, 1998. Noch immer fragte ich mich: Wer trug die durchsichtigen Blusen, die tiefen Ausschnitte, die ich in den Schaufenstern der Altstadt von Aleppo gesehen hatte? Die meisten Frauen waren doch mit Kopftüchern und langen Mänteln unterwegs.

Nach Nachtessen stiegen wir Schweizer Hotelgäste in den Aufzug. Er hielt im ersten Stock, wo gerade eine Hochzeit stattfand. Drei Frauen stiegen zu. Es waren opulent geschmückte Prachtsweiber mit üppigen Formen, opulenter Haarpracht und tiefen, tiefen Ausschnitten. Die Haut über ihren Brüsten war mit Henna-Tattoos bemalt.

Eine peinliche Fahrt nach oben folgte. Die drei hatten offensichtlich geglaubt, sie seien en famille. Wir wussten alle nicht, wo wir hinsehen sollten. Ich bin fast sicher, dass sie ehrbare muslimische Hochzeitsgäste waren, Schwestern, Cousinen, Tanten des Brautpaars.

An dieser Stelle müsste ich etwas Relevantes über Muslime sagen - oder wenigstens über Musliminnen. Aber ich muss passen. Leider musste ich nach 9/11 von der Überzeugung abrücken, die Söhne und Töchter Allahs seien alle tolerant und friedfertig. Ich musste damals einsehen, dass es Muslime gibt, die den Westen hassen, und die vor dem Morden nicht zurückschrecken. Und dennoch: Seit ich 1998 in den Gassen Aleppos selbstbewusste Christinnen habe zur Kirche gehen sehen, kann mir eins kein Mensch mehr erzählen: dass Muslime per se intolerant sind.

Christen haben in Syrien 1300 Jahre lang mit Muslimen zusammengelebt. (Hier mehr dazu). Irgendwie ging das. Daraus habe ich zwei Dinge geschlossen:

1) "Die Muslime" gibt es genau so wenig wie "die Christen". Wenn jemand zum Mörder oder auch nur zum selbstgerechten Holzkopf wird, gibt es immer noch andere Gründe als die Religion.

2) Wenn das Kopftuch fällt, dann sieht der Mensch darunter oft anders aus als wir es uns vorgestellt haben. Dann entstehen neue Fragen. Und es lohnt sich, sie zu stellen. Wenn irgend möglich.
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