Schaurige Liebesgeschichte
Mein Kleinverleger-Freund steht schwer unter Strom. Den ganzen Abend erzählt er mir von den Terminen, die er hat und gehabt hat und noch haben wird - und von seinen geschäftlichen Sorgen. "Und was liest Du so?" frage ich ihn. Ich meine... ein Kleinverleger muss doch lesen, oder?
"Drei Zeitungen im Tag, sonst habe ich keine Zeit zum Lesen", meint er mit einer wegwerfenden Handbewegung. Vielleicht sieht er deswegen so kaputt aus.
Mir wird klar, wie privilegiert ich bin. Vom Leben unfreiwillig entschleunigt sitze ich da und lese. Zurzeit lese ich viel über die Liebe. Ich habe Fragen an die Liebe. Ich suche Antworten.
Also habe ich dieses Buch wieder mal gelesen. Völlig unzeitgemäss, weil nicht so spannend. Man weiss ja, wie es herauskommt: tragisch. Romeo und Julia beiden sterben - Aus, Ende.
Aber wie es dazu kommt, ist bei Gottfried Keller ganz grosses Kino. Schon die erste Szene ist Grauen erregend: Da treffen sich zwei Kinder, Knabe und Mädchen, auf dem verwilderten Niemandsland zwischen den Äckern ihrer Väter. Dort spielen sie nicht etwa Tökterlis* oder Müetterlis** oder sonst ein herziges Kinderspiel. Sondern sie zerlegen in sinnloser Zerstörungswut eine Puppe. In den hohlen Kopf des Spielzeugs stecken sie eine noch surrende Fliege und begraben ihn. Die symbolische Kraft dieser Szene - grossartig!
Dann bekommt die Leserin erzählt, wie die beiden Väter einander (oder sich selber?) finanziell und moralisch zu Grunde richten - einfach aus Stolz. Unablässig kreist die Geschichte um eine Ordnung und Wohlanständigkeit, die etwas zu ordentlich ist. Und um das Gegenteil, das aus ihr entsteht: um Verwilderung, um Niedergang, um Unrecht. Sehr schweizerisch, das alles. Da ist auch viel unterschwellige Komik drin, aber Keller lässt sie schön unterschwellig bleiben.
Und warum verlieben sich die beiden Kinder später, als junge Erwachsene mit prekärer Zukunft? Weil sie einander an die heile Welt ihrer Kindheit erinnern. Aber war sie so heil?
Über diese und andere Geschichten hätte ich gerne ein bisschen mit dem Kleinverleger geplaudert. Er ist schliesslich auch Germanist. Aber das hat ihn überhaupt nicht interessiert.
* Schweizerdeutsch: Doktorspiel
** Auch Schweizerdeutsch. Ich weiss nicht, ob es dazu eine Entsprechung im Hochdeutschen gibt. Kindliches Rollenspiel, oft mit Puppen, eine oder mehr Mütter kommen vor.
"Drei Zeitungen im Tag, sonst habe ich keine Zeit zum Lesen", meint er mit einer wegwerfenden Handbewegung. Vielleicht sieht er deswegen so kaputt aus.
Mir wird klar, wie privilegiert ich bin. Vom Leben unfreiwillig entschleunigt sitze ich da und lese. Zurzeit lese ich viel über die Liebe. Ich habe Fragen an die Liebe. Ich suche Antworten.
Also habe ich dieses Buch wieder mal gelesen. Völlig unzeitgemäss, weil nicht so spannend. Man weiss ja, wie es herauskommt: tragisch. Romeo und Julia beiden sterben - Aus, Ende.
Aber wie es dazu kommt, ist bei Gottfried Keller ganz grosses Kino. Schon die erste Szene ist Grauen erregend: Da treffen sich zwei Kinder, Knabe und Mädchen, auf dem verwilderten Niemandsland zwischen den Äckern ihrer Väter. Dort spielen sie nicht etwa Tökterlis* oder Müetterlis** oder sonst ein herziges Kinderspiel. Sondern sie zerlegen in sinnloser Zerstörungswut eine Puppe. In den hohlen Kopf des Spielzeugs stecken sie eine noch surrende Fliege und begraben ihn. Die symbolische Kraft dieser Szene - grossartig!
Dann bekommt die Leserin erzählt, wie die beiden Väter einander (oder sich selber?) finanziell und moralisch zu Grunde richten - einfach aus Stolz. Unablässig kreist die Geschichte um eine Ordnung und Wohlanständigkeit, die etwas zu ordentlich ist. Und um das Gegenteil, das aus ihr entsteht: um Verwilderung, um Niedergang, um Unrecht. Sehr schweizerisch, das alles. Da ist auch viel unterschwellige Komik drin, aber Keller lässt sie schön unterschwellig bleiben.
Und warum verlieben sich die beiden Kinder später, als junge Erwachsene mit prekärer Zukunft? Weil sie einander an die heile Welt ihrer Kindheit erinnern. Aber war sie so heil?
Über diese und andere Geschichten hätte ich gerne ein bisschen mit dem Kleinverleger geplaudert. Er ist schliesslich auch Germanist. Aber das hat ihn überhaupt nicht interessiert.
* Schweizerdeutsch: Doktorspiel
** Auch Schweizerdeutsch. Ich weiss nicht, ob es dazu eine Entsprechung im Hochdeutschen gibt. Kindliches Rollenspiel, oft mit Puppen, eine oder mehr Mütter kommen vor.
diefrogg - 24. Sep, 17:45
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