3
Aug
2014

Blaue Stunde und eine Geburtstagskarte

Noch schwelgen wir in Erinnerungen an unsere Englandreise der letzten drei Wochen. Hier fünf Hinweise auf Highlights, die ich etwaigen Nachahmern gerne mit auf den Weg gebe. Es sind Orte ganz leicht abseits der Wanderautobahnen und der Touristenfallen - meine persönlichen Geheimtipps, gewissermassen:


(Bild von Herrn T., hier mehr von ihm über unsere Reise).

1. Liverpool zur blauen Stunde: Liverpool ist eine faszinierende und eine merkwürdige Stadt. In den letzten Jahren ist aus der verfallenen Schifffahrtsmetropole an der Mersey ein feuchter Traum für Stadtplaner geworden. Neben alten Repräsentierbauten schiessen hier die architektonischen Knaller des frühen 21. Jahrhunderts in die Höhe.



Die Stadtmitte ist ein riesiges Einkaufszentrum, die Stadtmitte-Docks an der Mersey eine gigantische Gedenkstätte des Industriezeitalters, Unesco-Welterbe. Touristen, Touristen, Touristen. Ein Spaziergang zum Mersey-Ufer, ist dennoch sehr zu empfehlen. Am besten in der Abenddämmerung. Denn zur blauen Stunde fahren die Shopper allmählich nach Hause. Der Fluss liegt ruhig da. Am anderen Ufer in Birkenhead wartet die Fähre nach Belfast auf Passagiere. Und am Mariner's Wharf kann man auch bei unfreundlichen Temperaturen noch spät den Wakeboardern zuschauen.

2. Mit dem Zug durchs Wattenmeer: Auch wenn Gerüchte anderes behaupten: Man kommt in England mit dem Zug gut zurecht. Wer von Lancaster nach Carlisle will, wählt dafür am besten den langen Weg via Barrow-in-Furness. Klapprige, fast leere Züglein fahren durch eine spektakuläre Landschaft auf Brücken übers Watt. Für Binnenlandratten ein Must.


(Quelle: au-fil-des-rails.net).

Gleich nördlich der Station Seascale liegt der berüchtigte Nuklearkomplex Sellafield. Er verschandelt vom Zug aus gut sichtbar einige hundert Meter dieser sonst so unberührten Küste.

3. Claudia Severa lädt zum Geburtstagsfest: Claudia Severa hatte am 11. September Geburtstag. Allerdings wusste sie noch nicht, wie bedeutungsschwanger dieses Datum einmal sein würde. Sie lebte im zweiten Jahrhundert nach Christus im Fort Vindolanda, am äussersten Nordrand des römischen Reiches. Anfang September des Jahres 103, 104 oder 105 n. Chr. nahm sie ein Holztäfelchen und ritzte Schriftzeichen hinein. So schrieb man damals Briefe. Claudia Severa verfasste eine Einladung zu ihrem Geburtstagsfest für die Ehefrau des Fort-Kommandanten, Sulpicia Lepidina. Das Dokument ist in einem herzlichen Ton gehalten. Jemand entsorgte es später mit anderen Schriftstücken in einem Graben, wo Archäologen es im späten 20. Jahrhundert ausgruben. Es ist - so heisst es jedenfalls - die erste erhaltene Handschrift einer Frau in der westlichen Welt. Man erfährt darüber alles im Museum des Forts Vindolanda.

4. Newcastle - der Weg der sieben Geschichten: Newcastle ist nicht ganz so spektakulär wie Liverpool - aber die Städte haben eine ähnliche Geschichte. Beide waren Industriestädte, dann furchtbar abgewirtschaftet - und jetzt locken Museen die Touristen an. Eher zufällig haben wir am Flüsschen Ouseburn - einem kleinen Seitenarm der Tyne - einen bezaubernden Industrielehrpfad gefunden.



Das Bild zeigt Herrn T. vor einem ehemaligen Mehl-Lagerhaus mit sieben Stockwerken (engl.: seven stories). Heute ist es ein nationales Kinderbuchmuseum für sieben, 77 und 777 Kindergeschichten und heisst seven stories museum.

5. Die Jugendherberge am Ende des Universums: Der Skiddaw ist ein Dreitausender - nein, nicht 3000 Meter über Meer, sondern 3000 Fuss, umgerechnet rund 900 Meter. Ein eindrücklicher, kahler Haufen Gras und Steine im Herzen des Lake District. Es ist klar, dass die sportlich ehrgeizigen Gäste der Ferienregion ihn bezwingen wollen. Die Hauptroute nach oben ist steil, unansehnlich und eine Wanderautobahn. Für den Abstieg wählten wir einen lieblicheren Umweg. Er führt durch eine wenig begangene Moorlandschaft. Mittendrin taucht dieser merkwürdige Garten auf.



Unter den weit und breit einzigen Bäumen im ganzen Tal steht hier eine Jugendherberge. Sie sieht aus wie ein Trainingslager für angenehende Spione im Kalten Krieg - und man fragt sich, ob seit den siebziger Jahren je wieder jemand hier übernachtet hat. Von hier aus gings weiter durch eine Traumlandschaft. Es war eine anstrengende Wanderung - aber meine beste seit langer Zeit.
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