27
Nov
2009

Zweite Wunderheilung

Obwohl ich gerade in Cortison-Behandlung bin, stürzte mein Ohr gestern Abend wieder brutal ab: Von Roger Federers Fernseh-Kommentar zu seinem Spiel hörte ich nur noch "brabbelbrabbel... guet gschpiilt.... brabbelbrabbel..., a bitz a tschälensch", oder ähnlich. Nicht so schlimm. Er sagt ja sowieso immer dasselbe. Schlimmer: An telefonieren war nach 21 Uhr nicht mehr zu denken (ich hätte es vielleicht gekonnt, aber ab einem gewissen Punkt schäme ich mich jeweils, dauernd "hä?!" zu sagen).

Irgendwann am Abend sagte ich mir so gelassen wie möglich: Frau Frogg, Du wirst nicht wieder gesund. Wenn Du ins Leben zurück willst... "Ja, das will ich, unbedingt und möglichst bald!" qiuekste Frau Frogg.... also gut, wenn Du wieder zurück ins Leben willst, dann musst Du Dich damit abfinden, dass Du es mit einer Behinderung tust. Am besten lernst Du möglichst schnell, damit umzugehen! Ich muss zugeben: Damit sich Frau Frogg so etwas einigermassen gelassen sagen kann, braucht sie die Hilfe eines Milligramms Temesta. Aber vielleicht gehts auch eines Tages ohne.

Heute Morgen war dann wieder ein Termin im Spital fällig: die dritte von vier letzte Woche begonnenen Cortison-Spritzen direkt ins Trommelfell. Die Injektionen machen die jungen Ärzte im Spital, es ist fast jedes Mal jemand anderes. Diesmal war wieder der etwas andere Doktor an der Reihe. Er ist noch jung, asiatischer Abstammung und sieht irgendwie selbstvergessen aus, wenn er auf seinen Strohsandalen durch die Gänge schlurft. Er geht anders mit Frau Frogg um als die anderen Ohrenärzte. Wenn man zu normalen Ärzten sagt: "Hören Sie, dieses Auf und Ab macht mich halb wahnsinnig. Ich bin mit den Nerven am Ende." Dann sagen die: "Ach, Sie müssen das positiv sehen. Es besteht eine reelle Chance, dass alles wieder gut wird." Er aber sagt: "Das verstehe ich gut." Und versucht irgendwie zu helfen.

Letztes Mal, an einem verzweifelten Morgen, schrieb er mich ein paar Wochen krank und schickte mich dann nach Hause. Ich solle mich ausruhen, sagte er. Das sei das Wichtigste. Ich ruhte mich aus, und dann geschah etwas ganz Aussergewöhnliches: Gegen 17 Uhr konnte ich wieder Radio hören. Am Abend ging ich mit Veronika spazieren. Sie wird bezeugen, dass wir damals eine ganz normale Konversation führten. Dazu war mir leicht schwindlig, und ich hatte dieses seltsame Geräusch im Ohr: wie Schmelzwasser, das unter Eis hervorrieselt. Wie 1000 fallende Stecknadeln. Am nächsten Morgen hörte ich wieder alles. Das war meine erste Wunderheilung.

Leider dauerte das Glück nicht mehr als zwei Tage. Danach wandte sich das arme Ohr wieder zeitweise sehr ruckartig von der Welt ab. Deshalb erwartete ich diesmal auch nicht viel vom etwas anderen Doktor. Ich liess ihn mir meine Spritze geben und legte mich dann zu Hause auf die Couch. Herr T. hörte kochte Mittagessen und hörte Radio. Ich hörte Brabbeln.

Kurz vor dem Mittagessen streckte mich ein für meine Verhältnisse ungewohnt heftiger Schwindelanfall noch tiefer in die Polster. Gleichzeitig hörte ich im Soundbrei am Radio wieder erste klare Phrasen. Ich schluckte ein Antemin gegen die Übelkeit und nahm das Mittagessen zu mir. Danach hörte ich die ersten Flugzeuge seit Tagen am Nachmittagshimmel. Und ich hörte 1000 fallende Stecknadeln.

Vorhin hörte ich wieder leise Musik. Sehr leise. Und ich dankte still dem etwas anderen Doktor. Ob die Heilung von Dauer ist oder nicht, wird sich diesmal zeigen. Aber er hat mir einen Aufschub gewährt. Den werde ich geniessen, auch wenn er nur einen Tag dauert.
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Journal einer Kussbereiten

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