5
Apr
2008

Die Wohlgesinnten, 2

Ich Idiot! Ich hätte es wissen müssen: Jonathan Littell wird mir meine erste Frage nicht beantworten: Er wird mir nicht erklären, warum ein Mensch zum Massenmörder wird. Er wird es deshalb nicht tun, weil er aus seinem Helden, Maximilian Aue, einen Ich-Erzähler gemacht hat - und jeder erstsemestrige Literaturstudent weiss, dass Ich-Erzähler unzuverlässige Kreaturen sind: Sie werden beschönigen, auslassen, schummeln Und da ist in der Regel niemand, der nachfragt.

Auch nicht bei Aue. Und bei Aue kommt noch dazu, dass wir ihn zum vorneherein nicht mögen. Gar nicht mögen wollen. Weil er ein Nazi-Schlächter ist, die Personifikation des Bösen. Schon der erste Satz im Buch vertieft diese Abneigung: "Ihr Menschenbrüder, lasst mich euch erzählen, wie es gewesen ist." Was für eine schwülstige Anbiederung! Was für ein peinlicher Versuch, uns eine Story ohne plausiblen Helden als Epos zu verkaufen!

Ja, klar, und dann spielt uns Aue als alter Mann in der Einführung die übliche Platte vor, die vom Rädchen im System: "Dann ist der Krieg gekommen, ich diente, ich wurde in schreckliche Ereignisse, in Gräueltaten verstrickt." (S. 38) Und später: "Ihr könnt niemals sagen: Ich werde nicht töten, das ist unmöglich, höchtens könnt ihr sagen: Ich hoffe, nicht zu töten." (S. 39). Nun gut, wahrscheinlich hat er ja recht. Aber sinngemäss sagte nach dem Krieg doch jeder, der Blut an den Händen hatte, dasselbe.

100 Seiten und einige Massenexekutionen in der Ukraine später sieht Aue die Sache schon etwas anders aus: Einige seiner Kollegen haben bereits Nervenzusammenbrüche gehabt oder sich wenigstens von der Front wegdegradieren lassen. Jetzt stellt Karrierist Aue sich anders dar: "Seit meiner Kindheit trieb mich der leidenschaftliche Wunsch nach dem Absoluten und nach Grenzüberschreitung; jetzt hatte mich diese Leidenschaft an den Rand der Massengräber in der Ukraine geführt." (136) Nein, jetzt kann er sich nicht mehr "für die Bequemlichkeit der bürgerlichen Gesetze, die laue Sicherheit des Gesellschaftsvertrags entscheiden". Was ist er doch für ein toller Hecht! Was für ein grossartiger, einsamer Wolf.

Aber sagen nicht viele andere von sich, sie hätten den Wunsch nach Grenzüberschreitungen? Hat die Frogg das nicht auch schon gesagt? Hätte sie das Zeug zur Verbecherin? Wir werden es hoffentlich nie wissen. Und wir werden keine Antwort von Littell bekommen, denn die Persönlichkeit seines Helden zerrinnt uns unter den Fingern. Eigentlich müsste ich das Buch nicht lesen. Ich könnte es einfach mit Iris Radisch halten, den Schinken verwerflich finden und weglegen.

Und doch mache ich weiter, in einer konzentrierten, fiebrigen Hast (das Buch ist dick, und ich will vor Weihnachten fertig sein). Ich gestehe: Ich kann mich dem schieren Wahnsinn dieser Geschichte (noch) nicht entziehen.

Übrigens bin ich bei weitem nicht die einzige. Lesenswert bloggt zu diesem Buch zum Beispiel der hier.
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