offene Briefe

9
Feb
2013

Französin mit Chic

Was tat Fred Feuerstein eigentlich 1944 in Frankreich? Wo war er stationiert? Herr T. hatte seinem Grossvater nie solche Fragen gestellt. Nur an eine Geschichte erinnert sich mein Liebster. Fred muss sie seinen Enkeln gern erzählt haben: Einmal habe er drüben in Frankreich unter Kollegen seine Meinung zu laut herausposaunt. Er habe ja so lange in der Schweiz gelebt. Da habe er sich eben nicht daran gewöhnen können, dass man unter Deutschen gewisse Dinge nicht sagen durfte. Zur Strafe sei zur Minenräum-Truppe befohlen worden - ein Selbstmordkommando. Nur weil einem Offizier das Leben rettete, sei er da wieder rausgekommen. Klar, warum er die Story so gern erzählte: Sie macht ihn zum Helden und entlastete ihn vom Verdacht, ein Nazi gewesen zu sein.

Die Briefe aus dem Frühjahr 1944 zeigen uns aber ein anderes Bild von Fred: Zu jener Zeit war er als Fahrer und Dolmetscher tätig - er hatte ja in der Schweiz Französisch gelernt.

Und noch am 11. Mai schwelgte er in den Freuden des Eroberer-Daseins. Er schreibt seiner Frau Erna nach einem Aufenthalt, wahrscheinlich in Paris*: "Kurz vor meiner Abreise habe ich ... einen fabelhaften, schweren Seiden-Brokat-Stoff gekauft. Zwei Meter in frais-rouge. Ich glaube, dass es fast zwei Blousen gibt. Es ist eine so schwere Qualität wie man sonst nirgends mehr findet. Ich hätte es als ‚Boche‘** nicht erhalten, ausser zu einem noch viel höheren Preis. Eine Demoiselle, die in Mode schwimmt, aus reichem Hause, chic, distinguée…, hat ihn für sich kaufen müssen. Ich habe das Paketchen einem Kameraden hinterlassen zur Mitnahme in die Heimat.“

Die Passage erinnert frappant an Bertolt Brechts Ballade Was bekam des Soldaten Weib:



Fred kannte das Lied sehr wahrscheinlich nicht. Brecht hatte es 1943 im amerikanischen Exil verfasst - in Deutschland bekam man es wohl nicht zu hören. Fred kannte demnach auch den düsteren Schluss nicht. Doch auch er sah dunkle Wolken heraufziehen. Er mahnte Erna - vorsichtig - zur Mässigung bei ihren Bestellungen. Er habe ihr auch einen Füllfederhalter für eine Nachbarin, Nagellacke, Augenbrauenstift, Lavendel in Beuteln, eine feine Seife und einen Rasierpinsel - wohl für einen Nachbarn - gekauft, schrieb er. Aber nun war es genug: "Du hast nun sehr viele Wünsche, allerdings lauter nützliche Dinge, die man in der Grosssstadt noch erhält, obzwar alles wahnsinnig teuer ist ... Ich mache, was ich kann…"

Und er orakelt: "Aber eben, es kommt ja doch noch zuerst eine ganz grosse Sache, eine Schlächterei, bevor unsere Feinde fertig sind. ... Sie getrauen sich vielleicht gar nicht, auf dem Lande zu kämpfen. In der Luft sind sie jetzt schon saufrech. Sie hauen schon die französischen Städte in Trümmer.“

Wir, die wir die Gnade der späten Geburt haben, wissen: Im Bezug auf die "Feinde" irrte er sich. Doch darüber später mehr.

* Wo er stationiert war, fanden wir zunächst nicht heraus. Alle Briefe waren mit "O. u." oder "am alten Ort" datiert - die Soldaten durften nicht schreiben, wo sie waren.
** Französisches Schimpfwort für die deutschen Besatzer.

6
Feb
2013

Bordelle und eheliches Vertrauen

Ich näherte mich Fred Feuersteins Briefen aus dem Zweiten Weltkrieg mit grossem Respekt. Er hatte sie ja nicht für die neugierige Nachwelt verfasst. Sondern für seine Frau - und auch für seine 1944 zehnjährige Tochter.

Vor allzu intimen Geständnissen würde dies wohl ihn und mich schützen, dachte ich. Zusammen mit dem Umstand, dass damals Zensurstellen über die Äusserungen der deutschen Soldaten wachten. Fred wusste das sicher. Mich machte es misstrauisch. "Wie aussagekräftig sind solche Dokumente überhaupt?" fragte ich mich. Und auf Nazi-Gerede wollte ich mich sowieso nicht einlassen.

Schliesslich war die Neugier stärker. Ich griff nach dem obersten Brief im Stoss. Schnell stellte ich fest: Fred konnte schreiben. Schon im ersten Brief vom 19. März 1944 wartete er mit happigem Stoff auf. Er berichtet: "Gestern habe ich Rennes einen Kameraden der Schreibstube im Krankenlazarett besucht. Er ist in der Abteilung Geschlechtskrankheiten. Du, da stehen einem die Haare fast zu Berge, wie da junge Männer, Burschen fast, auf allen Vieren daherkriechen vor Schmerzen. Selten einer kann aufrecht gehen. Einfach schauderhaft, ekelhaft und belehrend. Das sind meistens Leute, die sich mit einer wilden Dirne einliessen und infiziert wurden. In allen Städten hat es doch die kontrollierten Häuser für die Säue. Mich ekelt heute solches Leben geradezu an." Dann versichert er seine Frau kurz seiner Treue. Das eheliche Vertrauen scheint intakt gewesen zu sein.

Eine kurze Recherche im Internet zum Thema ist nichts für sensible Gemüter: Gegen eine Million deutsche Soldaten zogen sich im Zweiten Weltkrieg Geschlechtskrankheiten. Sie verbreiteten sie weiter unter den bedauernswerten Frauen, die sich in den besetzten Gebieten prostituierten. Die Alliierten hatten dagegen Penicillin - für die Soldaten. Die Deutschen offenbar nicht. Hier ein Link. Und der Begriff "wilde Dirnen" stammt durchaus aus dem nationalsozialistischen Sprachgebrauch - er bezeichnete Frauen, die nicht in den von Nazis ärztlich versorgten Bordellen anschafften.

Genug davon.

Als Kontrastprogramm hier noch ein Link: Der Tagesanzeiger berichtet über 22 ostschweizer Schulmädchen, die dem Bundesrat 1942 einen Protestbrief schrieben. Sie kritisierten, dass die Schweiz damals Juden an der Grenze zurückwies - hat uns heute ein Enkel von Fred Feuerstein gemailt. Das waren Mädchen mit Zivilcourage!

2
Feb
2013

Briefe an seine Frau

Sie nannten ihn Fred Feuerstein, und der Name war Programm: Er soll sich für allerhand kuriose Innovationen so begeistert haben, dass sie ihm das Urteilsvermögen trübten. So habe er Esperanto gelernt, weil er überzeugt war, dass die Kunstsprache eine grosse Zukunft habe. Man belächelte und mochte ihn dafür.

Fred Feuerstein war Herrn T.s 1975 verstorbener Grossvater. Mit seinem gelegentlichen Fehleinschätzungen erklärte sich die Familie später, warum er während der Nazizeit mit der ganzen Familie aus der Schweiz nach Deutschland auswanderte. Fred war Deutscher, hatte aber lange in der Schweiz gelebt. Er habe sich von der Hitlerei in Deutschland ein wenig den Kopf verdrehen lassen, sagte Herr T. Er neigt sonst nicht dazu, die Begeisterung für mörderische Diktaturen zu verharmlosen. Aber Fred sei kein richtiger Nazi gewesen, sagte Herr T. Nur etwas irregeleitet.

Er sei in Deutschland sogar ziemlich schnell auf die Welt gekommen. Die Deutschen schickten ihn noch mit vierzig an die Front nach Frankreich. Wie er den Krieg überlebte, erzähle ich ein andermal, hier nur so viel: Als 2004 Herrn T.s Mutter starb, fanden wir beim Aufräumen eine weisse Kartonschachtel mit lieblichen Weihnachtsverzierung - goldenen Rehlein und Tannenbäumchen und so. "Das sind Fred Feuersteins Briefe von der Front an seine Frau", sagte Herr T.

Wir räumten damals ziemlich radikal. Viel Porzellan, viel Silberzeug und viele Bücher gingen den Weg alles Irdischen. Auch Freds Briefe hätten das getan, wenn nicht ich die Hand nach ihnen ausgestreckt hätte.

Warum? Warum interessierte ich mich für Schriften eines Grossvaters mit suspekten politischen Neigungen, der nicht einmal mein eigener war? Nun, hier ist wohl ein politisches Bekenntnis meinerseits angezeigt. Ich stehe tendenziell ja eher links der Mitte. Wie die meisten Zeitgenossen neige ich zur Ansicht, jeder hätte die Gefährlichkeit der Nazis schon früh an ihrer rassistischen Rhetorik erkennen können und sich von ihnen distanzieren sollen. Das Herumhacken auf Minderheiten zu politischen Zwecken hat mich immer angewidert. Mit sowas wollte ich nie zu tun haben.

Aber ich habe Kompromisse gemacht. Kompromisse, die schmerzten. Und mich beschäftigt die Frage: Wann ist ein Kompromiss harmlos? Und wann macht man sich zur Komplizin von etwas Gefährlichem? Wo liegt die Grenze?

Dennoch stand die Schachtel mit den Briefen acht Jahre lang unangetastet bei mir herum. Kürzlich haben Herr T. und ich sie aufgemacht. Mehr folgt.

3
Mai
2010

An alle Hundehalter

Ein Hund versperrt mir den Weg. Ich bin eben um die Kurve im Pärkchen gebogen, und da steht er. Gross wie ein Kalb.



So einer. Ein Dobermann (leider nicht angeleint wie das Exemplar auf dem Bild). Ich kann ihm nicht ausweichen. Ich habe zwei Taschen, und der Weg ist schmal. Ausserdem komme ich der Töle lieber nicht zu nahe. Die Besitzerin ist vorerst nirgends zu sehen. Erst Sekunden später entdecke ich sie, zehn Meter weit weg. Sie beginnt zu rufen: "Hierher! Fuss! Hierher!" Gehorcht der Köter? Ach, wo denkt ihr hin?! Er schnüffelt weiter munter an irgendetwas am Wegesrand. Ich muss warten, bis die Frau da ist und ihr Hundeli am Halsband nimmt.

Sofort beginnt sie zu beteuern, was für ein liebes Tier ihr Tierchen doch sei! "Er macht nüt!" und all das Zeug. Ihr wisst schon.

Ich muss es jetzt einmal in aller Deutlichkeit schreiben: Das interessiert mich nicht. In einer solchen Situation lautet das einzige Wort, das ich von einem Hundehalter hören will: "Entschuldigung!" Laut und deutlich. Denn in einem solchen Moment missbraucht der Hundebesitzer seine Freiheit.

Was haben wir doch gelernt in der Grundschule des bürgerlichen Daseins? Die Freiheit des einen hört da auf, wo sie die Freiheit des anderen einschränkt. In einem solchen Moment schränkt ein Hundebesitzer meine Bewegungsfreiheit ein.

Zu der Frau sage ich: "Ihr Hund gehört an die Leine". Und gehe weiter. Endlich.

23
Dez
2009

Engel im Haus

Hier sitze ich und bin immer noch krank geschrieben. Ich könnte schreiben, schreiben, schreiben. Aber ich diesmal spiele ich zur Vorweihnachtszeit lieber ein bisschen Engel im Haus: Ich schenke den Zimmerpflanzen Aufmerksamkeit. Ich putze das Bad sorgfältiger als sonst. Ich bedaure ein bisschen, dass wir, wie stets, keine Tannzweige und keine Kerzli haben.

Für alle, die doch etwas lesen wollen, hier ein frogg'scher Weihnachts-Klassiker aus dem Jahr 2002.

Euch allen frohe Festtage!

24
Mrz
2009

Seele verkauft

Trotz meiner Abneigung gegen dieses Buch. Ein Zitat daraus werde ich Euch nicht ersparen: "Everybody sells their soul to the devil. I just decided that I'd get a damn good price for mine." (S. 11)

Und dazu gleich noch ein paar Fragen:
1) Habt Ihr Eure Seele schon verkauft?
2) Habt Ihr einen guten Preis dafür bekommen?
3) Habt Ihr dafür auch schon ein bisschen Hölle im Diesseits abgesessen?

"Nicht doch!" höre ich jetzt meine imaginäre Leserin Ulrike unken. "Ich bin mir stets treu geblieben. Nur so wird man im Leben glücklich!" Darauf, liebe Ulrike, gibt es eine gute Antwort: "Gute Mädchen kommen in den Himmel. Böse Mädchen kommen überall hin."

3
Mrz
2009

Erbrecher-Jagd

Dieses von Herrn T. geprägte Wort umschreibt die Tätigkeit, der die Polizei von Gossau seit gestern frönt. Er hat mir erlaubt, es Ihnen, Herr Phrasardeur, zu widmen.

30
Dez
2008

Weltuntergang

Es ist die Zeit der Jahres-Rückblicke. Ein guter Anlass, Euch einmal etwas über die Frogg zu erzählen, was ich Euch bislang schamvoll verschwiegen habe: Herr T. nennt seine Liebste manchmal eine Jammertante. Was sie nach einem Arbeitstag jeweils von sich gibt, nennt er Jeremiaden. Und da Herr T. zu Untertreibungen neigt, ist auch das eine. In Wirklichkeit ist es so: Frau Frogg ist die grösste aller Jammertanten, die Königin der Jeremiaden-Sängerinnen.

Übertroffen wird sie nur von ihren beiden geschätzten Kollegen Stöhn und Bartholomäus. Von Herrn Stöhn kann man mit Fug sagen, dass er das Klagen zur Kunstform erhoben hat - echt und gfürchig und doch mit hie und da einem Funken Selbstironie. Aber das ist eine andere Geschichte. Hier geht es um meinen Jahresrückblick, und ich muss es einmal ehrlich sagen: Die Frogg prophezeite 2008 ihren Weltuntergang. Natürlich hat Herr T. es jeweils nicht so ernst genommen, wenn sie sagte: "Komm, leisten wir uns diese phantasische, aber schweineteure Ferienwohnen in Istanbul! Vielleicht ist es das letzte Mal, dass wir so weit reisen können. Komm, ich kaufe das teurere Sofa! Vielleicht bin ich nächstes Jahr mausarm!"

Aber die Frogg hatte 2007 auch plausible Argumente für ihre pessimistischen Prognosen gesammelt (Angst hatte sie keine: SIE würde mit offenen Augen und für einmal schwindelfrei in jeden Abgrund schauen, der sich 2008 auftäte!)

Da waren zum einen diese unheimlichen Ohrenprobleme: Die Schwindelanfälle, und viel schlimmer noch: Die Hörnachlässe in meinem guten rechten Ohr, das Gedröhn und Gegurgel. Wer hätte da nicht Angst gehabt vor dem Taubwerden? Davor, irgendwo da draussen umzufallen und nicht mehr aufzustehen.

Und dann war da noch die Finanzkrise. Schon im Januar wusste die Frogg: "Da kommen gröbere Dinge runter!" (So prophezeit es jeweils der Busen- Blut, Blech- und Wetterspezialist unserer Zeitung an unseren Sitzungen).

Gott sei Dank ist alles nicht so schlimm gekommen wie befürchtet. Noch hört die Frogg. Noch hat sie einen Job. Der Krimi macht Fortschritte. Es gab auch grosse Glücksmomente, sogar mehr als einen. Eigentlich war 2008 ein bemerkenswert gutes Jahr. Es gibt Anlass zu Hoffnungen. Ich schmiede sogar schon wieder Reisepläne für 2009. Es soll wieder in die Türkei gehen!

Und doch. Eins wird die Frogg nie ausser Acht lassen können: Die Welt kann auch 2009 noch untergehen!

In diesem Sinne Euch allen ein gutes Neues Jahr!

15
Dez
2008

Frauenbuch, Männerbuch

Ich glaube, es wird Zeit, dass wir zum Kern unserer Diskussion über Shafak und Werfel kommen, geschätzter Herr Steppenhund. Schon mehrmals haben Sie Ihrem Missfallen darüber Ausdruck verliehen, dass ich hier Leserinnen ein Buch von einer Frau empfehle. Wollen Sie mir unterstellen, dass ich das Standardwerk von Franz Werfel abwerten wollte, nur weil er ein Mann war?

Das war natürlich nicht meine Absicht. Denn als ich Shafak empfahl, wusste ich gar nichts vom "Musa Dagh". Ich wollte auch nicht das Werk über den Völkermord an den Armeniern empfehlen. Vielmehr hatte ich ein Buch entdeckt, das mir gefiel. Und ich wollte es den Richtigen weiter empfehlen, nämlich meinen weiblichen Lesern. Denn eins gilt meines Erachtens: Es gibt tatsächlich Bücher für Männer und Bücher für Frauen. "Der Bastard von Istanbul" ist ganz eindeutig ein Buch für Frauen, weil:

1) Männer kommen darin nur am Rande vor
2) Shafak bedient sich eines Genres, das Frauen mögen: der Screwball Comedy.

Wahrscheinlich hat Shafak dies nicht ohne Kalkül getan. Sie wusste wohl, was jeder weiss, der sich hie und da mit Büchern befasst: Frauen lesen mehr Bücher als Männer. Sie lesen ausserdem mehr Belletristik als Männer. Und: Männer lesen, wenn schon, eher Romane von Männern.

Nehmen wir zum Vergleich Werfels Buch: Es stammt aus dem Jahre 1933 und ist meines Erachtens eindeutig als Männerbuch konzipiert. Das ist auch kein Wunder: Die Öffentlichkeit war damals weit gehend ein Raum für Männer. Und Werfel brauchte öffentliche Anerkennung, um sein Buch zum bildungsbürgerlichen Leser (oder wenigstens zum Käufer) zu bringen. Von dort konnte es ja dann auch gegebenenfalls noch den Weg in die Hände der Bildungsbürgersgattin finden.

Um öffentliche Anerkennung zu bekommen, tat er zwei Dinge: Er gab dem Buch Kunstcharakter. Und er bewies auf Teufel komm raus Überlegenheit in Sachfragen. Nur so konnte er auch die politische Relevanz seines Werkes behaupten. Beides gereicht dem Buch aus der Frogg-Perspektive eher zum Nachteil.

Um zu zeigen, wie er das machte, hier ein Beispiel: "Im Militärpavillon dort bricht in derselben Sekunde eine türkische Militärbande in quinklierende Janitscharenklänge aus." (S. 174 im Fischer-Taschenbuch von 2007).

Schwäche 1: Werfel versteht sich als Expressionist und schöpft lautmalerische Wörter wie "quinkelierend". Damals war der Expressionismus eine nicht mehr ganz avantgardistische Strömung der Kunst. Auf ihm zu bauen, würde ihm die Anerkennung der Literaturkritiker einbringen. Heute wirken solche Wortschöpfungen und anderen expressionisten Stilmittel aber eher gekünstelt.

Schwäche 2: "Oha, Werfel weiss, was Janitscharen sind!" denkt sich der Herr Bildungsbürger und ist beeindruckt. Selber wusste er nicht, was Janitscharen sind? Ich bitte Sie, jeder politisch interessierte Bildungsbürger von anno dazumal wusste das doch! Und wer es nicht wusste: selber schuld! Er konnte es ja verschämt im Konversationslexikon nachschlagen.

Doch die Zeiten und die Öffentlichkeit haben sich geändert. Heute gibt es einen Buchmarkt für gut ausgebildete und intelligente Frauen, die sich gerne ihrer Intelligenz angemessen und ohne bildungsbürgerlichen Firlefanz unterhalten lassen. Verbreitung bekommen die Werke für diese Frauen nicht zuletzt über Blog-zu-Blog-Propaganda.

Das heisst nicht, dass ich Werfel Frauen nicht zur Lektüre empfehlen würde. Im Gegenteil. Frauen können so gut googeln wie Männer. Abgesehen davon fallen die aufgezählten Schwächen insgesamt wenig ins Gewicht.

Aber vielleicht verstehen Sie jetzt, warum ich meinen Leserinnen trotzdem zuerst "Der Bastard von Istanbul" empfohlen habe!

Und Sie, Herr Steppenhund, dürfen es natürlich gerne auch lesen.

Roman-Monument

Sie haben mich neulich ziemlich ultimativ auf "Die vierzig Tage des Musa Dagh" von Franz Werfel verwiesen, geschätzter Herr Steppenhund. Meine Neugier hat daraufhin gesiegt. Ich habe begonnen, mir das Werk zur Brust zu nehmen. Nachdem ich 195 von 975 Seiten gelesen habe, kann ich so viel sagen: Ich bereue es keineswegs. Im Gegenteil: Das Werk hat nicht nur grosse Verdienste, sondern eine beeindruckende Wirkungsgeschichte. Schon deshalb lohnt sich die Lektüre.

Werfel schildert unglaublich differenziert und mit sehr viel Einfühlungsvermögen, was mit Menschen passiert, die zu einer ethnischen Minderheit gehören und deswegen verfolgt werden. Kein Wunder, dass es für die Juden des Dritten Reiches ein so wichtiges Buch wurde! Hier lässt sich nachlesen, was das in Deutschland schon bei seinem Ersterscheinen 1933 verbotene Buch bewirkte: "Die Juden haben Werfels Roman gerade in den dreissiger Jahren geschätzt, weil sie in ihm eine Art Spiegelbild der eigenen unsicheren Situation sahen. Und in der Zeit der Ghetto-Aufstände in Osteuropa wurde Werfels 'Musa Dagh' geradezu zum Symbol des Widerstandes."

Das Werk ist also wahrlich ein Monument, Herr Steppenhund. Leider eines, das seine Aktualität wohl noch lange nicht verlieren wird. In einem gewissen Sinne verstehe ich angesichts von all dem sogar, weshalb Sie der Meinung sind, dass sich nach der Lektüre von "Musa Dagh" die Lektüre eines jeden anderen Armenier-Romans erübrige (ausser vielleicht desjenigen von Hilsenrath).

Aber damit verwerfen Sie Shafaks Buch mit allzu viel Leichtigkeit. Denn Shafak steht an einem ganz anderen Ort: Sie zeigt, dass die Greuel der Geschichte auch bei den Nachgeborenen Wunden hinterlassen. Auch bei den Tätern. Und dass diese Wunden nur dann heilen können, wenn man hinschaut und ernst nimmt, was man sieht. Bevor ich diese Lektion auch in Werfels Buch finde, bin ich nicht bereit, Shafak dafür aufs Altpapier zu legen!
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