das bin ich

15
Aug
2015

Belauschte Frauengespräche

"Schwermut" ist ein bildungsbürgerlicher Begriff. Er lässt an Werther denken, an Hamlet, vielleicht an Ophelia.

Doch wenn ich das Wort lese, denke ich als erstes an die Frauen, die ich ich als kleines Mädchen in der ländlichen Innerschweiz belauscht habe. An die Kundinnen am Ladentisch meiner Grossmutter; an die Tanten, Cousinen und Schwägerinnen meines Vaters; wie sie in grosser Zahl an Hochzeiten und Beerdigungen strömten. Es waren die siebziger Jahre. Man war katholisch. Die Frauen trugen feste Schuhe und hatten raue Haut an den Händen. Keine sah je wirklich jung aus. Aber was konnten sie Klatsch herumbieten! Und manchmal gab es auch ernste Geschichten.

"D' Frou Amrein vo de Steibachmetzg? Deren isch doch de Bueb gschtorbe. Do isch si schwärmüetig worde. Und deren ere Maa isch eso bös gse! Am Schloss isch si is Wasser ggange."* Ich muss mehrere solche Geschichten gehört haben. "Schwermut" und "ins Wasser gehen" waren für mich immer untrennbar verknüpft - vielleicht gibt es auch hierzulande eine untergegangene Erinnerung an Ophelia.

Die Flucht von zu Hause, der Gang in die grünlichen Fluten schienen in diesen Geschichten wie ein wilder Befreiungsschlag. Oder so kam es mir als Kind vor. Man redete über solche Frauen - es waren immer Frauen - mit wehmütigem Respekt. Man nahm einfach an, dass manche Menschen nicht hart genug sind für die Schicksalsschläge, die sie bekommen.

Natürlich trafen solche Verhängnisse immer die anderen. Doch nicht unsere Familie! Klar, auch in unserer Familie kam es vor, dass eine mit ihrem Schmerz nicht mehr zurechtkam. Aber das war tabu. "Si hed einisch met öpperem müesse go rede"**, erzählte mir meine Mutter kürzlich verschämt über eine vor Jahren verstorbene Verwandte. Das hiess: Sie ging ein paarmal Psychiater.

Das Wort "Depressionen" kannte man. Aber Depressionen waren etwas für Stadtfrauen, etwas Kompliziertes. Man brauchte es - wenn überhaupt - nur in der Mehrzahl. So verpackte man das Übel in kleine Portionen. Das legte aber nahe, dass es nicht zwingend war. Dass man etwas hätte tun können oder müssen. Dass die Frau mit den Depressionen eine Last für ihre Umgebung war.

Lieber breitete man die Gnade der Schwermut über Frau Amrein von der Steinbachmetzgerei als die Schmach der Depressionen.

Man kann solche Geschichten später kritisch sehen. Oder vergessen. Prägend sind sie trotzdem. Frau Amrein hätte ich ihre Schwermut jederzeit zugestanden. Anderen nicht. Werther zum Beispiel habe ich immer für einen verwöhnten Schnösel gehalten.

Das hier ist mein Beitrag zum Projekt *txt auf neonwilderness. Das Stichwort lautet "Schwermut".

* Frau Amrein von der Steinbachmetzgerei? Ihr kleiner Sohn starb doch. Da wurde sie schwermütig. Ihr Mann war ja auch so böse. Schliesslich hat sie sich das Leben genommen, indem sie sich ertränkte."
** Sie musste mit jemandem sprechen.

9
Aug
2015

50 Jahre - die Bilanz

Wenn man 50 ist, zieht man Bilanz. Denn wir werden zwar heute mit der Illusion gefüttert, man könne sein Leben lang alles lernen und alles werden. Doch wir 50-Jährigen wissen: Wir haben auf unserer Lebenswanderung an mehreren Orten den point of no return überschritten – umkehren wird sehr, sehr mühsam. Die Wahrscheinlichkeit, dass ich noch Kinder haben werde, tendiert gegen null. Atomphysikerin werde ich wohl auch nicht mehr.

Dennoch erfüllte mich an meinem 50. Geburtstag so etwas wie Zufriedenheit. „Tatsächlich, ich habe überlebt!“ dachte ich. Ich war sogar ein bisschen stolz – was natürlich ein Witz ist. Ich meine: Von allen meinen Bekannten meiner Generation sind lediglich vier vor ihrem 50. Geburtstag über den Jordan gegangen. Und dass wir anderen noch hier sind, verdanken wir nicht in erster Linie einer Leistung, auf die wir stolz sein könnten. Sondern schlicht dem unsinnigen Glück, dass wir im richtigen Jahrhundert geboren worden sind.

Ich bin sogar ein bisschen stolz darauf, dass ich ich geworden bin. Obwohl ich gleichzeitig das niederschmetternde Gefühl habe, mein ganzes Leben sei eine Chronik des unablässigen Scheiterns. Nun gut – das war schon früh programmiert. Ich war ein brilliantes Kind. Mit fünf lernte ich lesen, mit sieben schrieb ich Geschichten. Das Wissen kam zu mir mit einem Fingerschnippen. Das weckt hohe Erwartungen. Gleichzeitig sollte ich einfach ein braves Mädchen sein.

Das ist ein schwieriger Spagat, das kann ich Euch sagen. Im Grunde war es immer egal, was ich tat – ich war entweder zu brav oder zu brilliant. Und so scheiterte ich täglich, kaum war meine Grundschulzeit beendet. Ich wurde eine mittelmässige Gymnasiastin, weil ich ein braves Mädchen war. Zu brav. Als ich es merkte, begann ich zu rebellieren – aber das war auch falsch. Im Berufsleben habe ich mich nur mit knapper Not gehalten – ich war mal ehrgeizig, mal brav, mal rebellisch, alles oft im falschen Moment. Meine Liebesbeziehungen waren stets gefährdet, zwei davon viele Jahre lang.

Nicht, dass mich das Scheitern an sich mit Stolz erfüllt. Im Gegenteil: Ich bringe zum Scheitern problemlos die passenden Gefühle auf: Zaudern, Schuldgefühle und tägliche rituelle Selbstohrfeigungen. Ich kenne nur einen einzigen Menschen, der im Leben noch mehr gezaudert hat als ich: meinen lieben Freund Chäppeli. Der hat sogar die meisten Feste jeweils wieder verlassen, bevor er richtig angekommen war – und es nachher furchtbar bereut.

Gut, feiern habe ich immer einigermassen gekonnt. Aber ich werde nie aufhören, Chäppeli ein bisschen dafür zu beneiden, dass er es spät noch zu einem sicheren Job und einer vierköpfigen Familie gebracht hat (wobei er den Verlust seiner Freiheit jedesmal bitter beklagt, wenn ich ihn sehe).

Was das Scheitern bei der Arbeit betrifft, so hat meine Krankheit eine Rolle gespielt. Aber welche genau? Und wann? Und wie sehr? Wissen tue ich das relativ genau. Aber fühlen tue ich etwas anderes: Ich habe mit ihr gelebt, und ich weiss nicht, wie es ohne sie wäre. Irgendwie empfinde ich auch das einfach als Scheitern.

Und die die Mutterschaft? Ich vermisse sie nicht sehr. Ich habe sie ja auch buchstäblich nicht im Blut. Ich bin rhesus-negativ. Selbst im kinderreichen 19. Jahrhundert hätte ich wahrscheinlich nur eines, mit grossem Glück zwei überlebende Kinder gehabt (Mathematiker unter Euch bitte nötigenfalls widersprechen). Die anderen wären alle bei der Geburt an einer qualvollen Immunreaktion auf das Blut ihrer Mutter verstorben. Das wäre eine Chronik des Scheiterns geworden! Und niemand hätte gewusst, warum. Vielleicht hat die Natur mich gnädigerweise mit einer psychischen Verfassung ausgestattet, die mir die Kinderlosigkeit erleichtert.

Ja, es ist so: Ich habe einfach Glück gehabt, dass ich im 20. Jahrhundert geboren wurde. Und doch: Ich erlaube mir ein Quäntchen Stolz. Ich schaue zurück und sehe: Ich habe mir einen Weg durchs Gelände gehauen, wo eigentlich gar keiner hätte sein sollen.

9
Jul
2014

Übers Bloggen

Eigentlich habe ich ja mit Bloggen aufhören wollen. Es lockte mich mehr, Kurzgeschichten oder einen Roman zu schreiben - man kokettiert halt mit solchen Sachen, zwischendurch.

Aber ich bekam dann doch wieder Zweifel. Um ehrlich zu sein: Ich fühlte mich so unvernetzt. Es ist ja nicht so, dass Herr T. und ich im realen Leben keine Freunde hätten. Eigentlich waren wir im Mai und Juni sogar geradezu gehörschädlich viel beschäftigt mit Besuchen und Gegenbesuchen und derlei mehr. Und doch: Da lästere ich zwar gerne über die Leute, die nicht fünf Minuten ohne Wazzup sein können und deswegen ihr reales Gegenüber gar nicht mehr sehen - aber selber bin ich höchstens ein kleines Bisschen besser. Wenn ich nicht blogge oder nicht wenigstens auf Facebook bin, dann hat meine Seele Phantomschmerzen, weil sie sich von ihren virtuellen Freunden abgeschnitten fühlt.

Dann bekam ich kürzlich eine Mail von einer Religionsforscherin der Uni Zürich. Sie hatte meinen Beitrag über das Knochenhaus von Poschiavo vom letzten Herbst gelesen und noch eine Frage. Ich war stolz, die Wissenschaft mit meinem Blog bereichern zu dürfen. Und ich lernte: So ein Blogbeitrag ist wie eine Flaschenpost. Manchmal erreicht er unerwartete Leser - und rettet dann nicht nur die Absenderin, sondern auch die Empfängerin.

Nun habe ich beschlossen: Ich werde doch wieder bloggen. Vielleicht etwas weniger als früher und noch nicht sofort. Nächste Woche verreisen wir nämlich für eine Weile nach England, und da werde ich keine Zeit haben. Aber danach: Wahrscheinlich schon.

Und jetzt mache ich noch schnell ein bisschen Werbung für das Institut der Frau, die mich wieder zum Bloggen verführt hat. Hier. Danke!

26
Mrz
2014

Das Verlangen

Seit Tagen versuche ich, mein rebellierendes Gehör wieder zur Ruhe zu bringen. Ich arbeite ein bisschen. Ich gehe spazieren. Ich widme mich meinen Freunden. Ich blogge ein bisschen. Ich sehe fern. Ich putze. Ich lese. Ich versuche, genug zu schlafen und vernünftig zu essen.

Manchmal denke ich an eine Passage, die ich kürzlich in der Autobiografie des Arztes und Alkoholikers Olivier Ameisen gelesen habe. Er schildert seinen Zustand nach seinem x-ten Entzug so: "Unterdessen fühlte ich mich wie ein Schatten meiner selbst. Pflichtgemäss versuchte ich, starke Gefühle zu vermeiden, die meine Stimmung zu sehr heben oder zu tief sinken lassen konnten. Ich litt unter dem, was einer meiner Psychiater später als die 'konformistische Abgestumpftheit' derjenigen bezeichnete, die versuchten, abstinent zu leben, während die zugrunde liegende Verstimmung unbehandelt bleibt."* So ähnlich ging es mir.

Ich hatte ein Gefühl, für das es in meinem Wortschatz keine hochdeutsche Vokabel gibt. Jedenfalls keine, die auch nur annähernd seine Macht umschreibt. Auf Schweizerdeutsch nennen wir es "s'Riisse"**, auf Englisch nennt man es "craving": das das Verlangen des Süchtigen nach seinem Stoff. Ich hatte Verlangen nach meiner Story.

Mit der Zeit merkte ich, dass das nicht nur ein einzelnes Verlangen war. Es war ein ganzes Bündel verschiedener Verlangen - so man denn dieses platte Wort überhaupt in den Plural setzen kann. Am Anfang war da nur ein wachsendes Unbehagen über ein gesellschaftliches Phänomen. "Darüber hat noch niemand geschrieben" dachte ich. "Ich habe ein Thema gefunden", dachte ich. Denn, ja, da war die Sehnsucht, vielleicht, nur vielleicht, doch noch etwas zu schaffen, was Bestand hat. Und da war der Wunsch, über mein kleines Fleckchen Erde hinauszusteigen, und sei es nur in ein selbst erschriebenes Luftschloss.

Und dann war da plötzlich dieser Kitzel, der Welt eine Liebesgeschichte zu erzählen, die ich vor vielen Jahren erlebt habe. Um sie überhaupt erzählen zu können, musste ich sie sogar für mich selbst ins rosige Licht der Fiktion setzen. Damit ich sie nicht auf Anhieb erkannte. Und da war es wieder - das erotische Knistern, das lodernde Verlangen von damals.

Ich glaubte, ich hätte längst mit der Sache abgeschlossen. Sind wir nicht alle einmal jung gewesen und haben an den Käfiggittern des Möglichen gerüttelt?! Ich stand im Badezimmer mit dem Putzlappen in der Hand. Da verblasste das rosige Licht der Fiktion. Vor mir stand, in grelles Neonlicht getaucht, die Wahrheit: Ich will, ich muss, die richtigen Worte finden, um diese alte, so erstaunlich wortlose Story zu einem würdigen Ende zu führen. Einfach so. Für mich allein.

Ich stand da und brach in Tränen aus. Ich weinte so heftig, dass ich für ein paar Minuten zu putzen aufhören musste.


* Olivier Ameisen: Das Ende meiner Sucht, gebundene Ausgabe von 2009, S. 108.
** ungefähr: das Reissen, das Wort stammt, glaube ich, aus der Sprache der Junkys.

9
Mrz
2014

Liebeskrank

Das Schreiben ist meine älteste Liebe. Ich begann zu schreiben, als ich fünf war. Ich weiss nicht, warum. Man weiss ja meist nicht, warum man Dinge tut, wenn man fünf ist. Meine Nichten, acht und elf, schreiben auch. Es muss eine vererbbare Krankheit sein.

In meinen Teenager-Jahren kam das Schreiben aus einem tief liegenden Teil meines Gehirns, in dem im Grunde viel Unsagbares ist. Schreiben war der Austragungsort meiner Tagträume, eine Selbst-Projektion. Eine Auseinandersetzung mit den Vorgängen des Erwachsenwerdens. Mit 13 verlor ich mich in einem Projekt, das zwei Jahre meines Lebenszeit frass. Bis ich merkte, dass ich nicht nur auf dem Papier Teenager sein wollte, sondern auch im wirklichen Leben. Beides - so erschien es mir jedenfalls damals - ging nicht.

Mit 20 nahm ich dann doch an einem Literaturwettbewerb teil. Man schickte mir nicht einmal mein Manuskript zurück. Das wertete ich als sehr schlechtes Zeichen.

Dennoch studierte ich Literaturwissenschaften. Aber ich vertraute der Literatur im Grunde nicht. Ich merkte, dass ich ihr eigentlich noch nie vertraut hatte. Wo hätte ich dieses Vertrauen auch lernen sollen? Ich kam aus einem relativ bildungsfernen Haushalt und war ein Mädchen. Der Haushalt und die Arbeit waren immer und aus Myriaden von Gründen ehrenwerter als die Literatur.

Dennoch veröffentlichte ich am Ende meines Studiums einen kleinen Roman, einen Fortsetzungsroman in einem lokalen Magazinchen. Es war ein Experiment, und es floppte.

Das machte nichts. Ich war sowieso andersweitig beschäftigt: Ich musste mir eine Existenz aufbauen. Ich wurde Journalistin. Das schien folgerichtig, und ich lernte viel: dass Schreiben per definitionem öffentlich ist und folglich die Kunst des Kommunizierbaren. Man denkt beim journalistischen Schreiben immer zuerst an die Sache und dann sehr schnell an den Leser. Journalistisches Schreiben passiert vornehmlich im vordersten Teil des Bewusststeins.

Genau mit dieser Geisteshaltung schrieb ich auch meinen Blog und meinen Krimi. Der Krimi bescherte wenigstens meiner Freundin Helga und mir ein paar glückliche Gespräche. Den Blog kennt ihr.

Bald werde ich 49. Als Journalistin habe ich mehr oder weniger ausgedient. Ich habe Zeit zu pröbeln. Ich merke, wie ich literarisch in meine Teenager-Zeit zurückdrifte. Wie aus kleinen Projekten wieder diese Wülste werden, in die ich alles hineinpacken will - und die mich emotional absorbieren wie ein schwieriger Liebhaber. 48 Jahre Leben, aus dem tieferen Teil meines Gehirns bestürmen mich die Ideen, die Erinnerungsfetzen, die Dramen.

Halten sie der Realität einer sauberen Recherche stand? Hat das alles überhaupt noch einen Sinn? Wo führt es hin?

Wäre es nicht gesünder, wenn ich mich einfach aufs Sofa legen und die Bücher anderer Leute lesen würde? Ich weiss es nicht. Es beunruhigt mich.

24
Nov
2013

Frau ohne Ziele

Neulich hat Bloggerkollege Jossele mir hier geraten, mir eine Liste zu machen, "was alles noch gelebt werden wolle". Das ist gewiss ein guter Vorschlag. Man lebt ja nicht ewig. Da sollte versuchen, das Beste aus seiner Lebenszeit zu machen.

Nur: Der Gedanke erwischte mich total auf dem falschen Fuss. Ehrlich, ich habe keine Ahnung, was in meinem Leben "alles noch gelebt werden" will. Merkwürdig, dachte ich.

Ich bin ja nicht an sich ein planloser Mensch. Was hatte ich vor fünf Jahren für Pläne! Ich wollte mit dem Kulturflaneur nach China reisen. Ich wollte einen Krimi schreiben. Und ich hatte ja so viele Ideen für meinen Berufsalltag, in dem damals "Ideen haben" eine wichtige Rolle spielte.

Dann liess mich mein Gehör im Stich. Ich war krank, erholte mich, wurde wieder krank, erholte mich nicht mehr richtig. Mein Leben wurde ein einziger, sorgfältig austarierter Versuch, mein Gehör so gut und so lange wie möglich zu erhalten.

Ich wurde zur Spaziergängerin. Spazieren tat mir gut. Ich hatte seriöse Spaziergänger-Projekte. Aber wachsende Probleme mit meinem linken Fuss trübten mir auch die Freude am Spazieren. Ich gehe heute weniger weit und vorsichtiger.

Ich lebe in den Tag hinein. Ich lese viel. Ich arbeite weniger. Ich bin in einer glücklichen Situation. Ich brauche mir keine Sorgen zu machen, woher in den nächsten paar Monaten das Geld für die Miete und das Mittagessen kommt. Wenn ich klage, dann klage ich auf hohem Niveau.

"Muss man Pläne haben?" fragte ich mich, als ich ein paar Schritte aus dem Schatten des Depressiönchens von letzter Woche machte. Muss man Ziele haben?

Klar: Der Mensch unserer Zeit braucht Ziele. Ziele geben uns die innere Härte und Gefasstheit, die wir brauchen, um im Leben zu bestehen.

Kann es ein Ziel sein, im Frieden mit sich selbst denn Alltag zu bewältigen?

16
Nov
2013

November im Herzen

Diese Woche habe ich schon zweimal den Internationalen Tag des Selbstmitleids ausgerufen. Ich habe mir beide Male geschworen, nach intensivem Suhlen wieder tapfer wie immer voranzuschreiten. Aber es geht nicht. Ich habe den November im Herzen, und er streckt mich nieder.

Ich denke viel ans Geschäft. Dort reden Männer aus dem fernen Zürich über Module, Synergien und Gewinnerwartungen und Luft, die irgendwo drin sein soll. Klingt alles abstrakt, aber jeder weiss: Es geht um meinen Arbeitsplatz. Ich höre mir das alles an und meine Ohren dröhnen. Ich komme mir vor wie ein kaputtes Spielzeug. Ein Bäbi* ohne Arm, sagen wir mal. Und bei diesem Spielchen spielen grössere Buben mit als sonst. Keine Ahnung, was die mit einem Bäbi ohne Arm machen.

Schlimmer noch ist das Alter. Ich bin 48 und ich weiss jetzt: Das Klimakterium ist wie eine zweite Pubertät. Und ich meine nicht die Wehwehchen. Ich meine die Identität. Ich gehe hinein in eine Dunkelkammer. Ich weiss nicht, wie ich herauskommen werde. Was ist eine alte Frau, die keine Grossmutter ist und keine Kapazität in ihrem Beruf? Wo steht sie? Manchmal denke ich, ich werde herauskommen wie jene Künstlerin mit den flatternden Röcken und den irren Augen, die jeder bei uns ein Original nennt. Das macht mich hoffnungsfroh - aber dann fällt mir ein, dass ich dazu viel zu konventionell bin.

In der Dämmerung schleiche ich hinein in unsere grosse, leere Kirche. Drin spielt die Orgel. Hier gibt es oft grandiose Konzerte, Orgelorgien, Orgelgewitter. Aber diesmal spielt der Organist verhalten. Plötzlich setzt er zu Yesterday von den Beatles an. Er spielt es wie ein Hammondorgelmann auf einer Ü70-Singleparty. Gähn! Vielleicht übt er für eine Beerdigung. Plötzlich geht mir die Songzeile durch den Kopf:

"Suddenly, I'm not half the man I used to be,
there's a shadow hanging over me."

Hey, das sind Zeilen über mich! Nur halb so gross wie früher, und der Schatten hängt nicht nur über mir - ich bin der Schatten!

Dennoch: Ich bin getröstet. Was gibt es besseres, als die Erkenntnis, dass der gute alte Paul McCartney schon 1965 mein Problem gekannt hat?!

* Schweizerdeutsch: Puppe

5
Okt
2013

Gedächtnisschwäche

Ein Freund von mir, um die fünfzig, sagte neulich: "Mein Gedächtnis lässt nach." Ihm sei eingefallen, dass er sich als Kind einmal ein Bein gebrochen habe. "Und ich konnte mich beim besten Willen nicht mehr erinnern, welches von beiden es war."

Ich muss gestehen: Mir (48) passieren ähnliche Dinge. Ich habe schon in unserem Zeitungsarchiv einen Kommentar aus den frühen Nuller Jahren gelesen und gedacht: "Hm. Gar nicht schlecht geschrieben. Schön kantig und klar." Erst zuunterest bei der Autorenzeile sah ich, dass er von mir war. Und neulich im Fitness-Center fiel mir ein, dass ich ja einen halben Hamlet-Monolog auswendig kann. Ich konnte ihn am Rudergerät problemlos herunterhaspeln:

"I have of late, (but wherefore
I know not) lost all my mirth, forgone all custom of exercises;
and indeed, it goes so heavily with my disposition;
that this goodly frame the earth, seems to me a sterrill
promontory..."
*.

Weiter kam ich nicht. Wie so vieles, was ich an der Uni anfing, habe ich auch das nie fertiggemacht. Was schade ist, denn die saftigen Stellen kommen erst. Ja, so viel weiss ich: Ich habe den Text an der Uni gelernt. Aber wann? Und was mich daran so begeistert hat, dass ich ihn meinem Langzeitgedächtnis einbläute? Ich weiss es nicht mehr.

Das fand ich beängstigend. Denn das Erinnerungsvermögen ist doch das Haus unseres Ichs! Seine Möbel, seine Wände, seine Fenster sagen uns, wer wir sind. Wenn grosse Stücke einfach so verloren gehen, dann haben wir unser Ich auf Sand gebaut. Dieser Sand kann uns das ganze Erdgeschoss zuschütten, und wir merken es nicht einmal.

Wenigstens haben wir heute das Internet, das Gedächtnis der Welt. Ich habe den Hamlet-Monolog dort recherchiert und in diesem wunderbaren Filmchen die Erklärung für meine Liebe zu einem Fetzchen Weltliteratur gefunden:



Den Film Withnail and I habe ich damals gesehen, da bin ich mir ganz sicher. Ich hatte aber natürlich vergessen, worum es darin überhaupt ging. Hier eine Inhaltsangabe.

Es ist ein Film, den ich mir unbedingt noch einmal ansehen muss. Seine Komik habe ich damals sicher verstanden. Seine Tragik dringt aus jeder Pore des Videos: Es die eines künstlerisch recht begabten Menschen, der sein Leben einfach nicht auf die Reihe bekommt. Richtig fassen kann ich sie wahrscheinlich erst heute.



* Hier gibts den vollständigen Text übersetzt: Ich habe seit kurzem - ich weiß nicht, wodurch - alle meine Munterkeit eingebüßt, meine gewohnten Übungen aufgegeben, und es steht in der Tat so übel um meine Gemütslage, daß die Erde, dieser treffliche Bau, mir nur ein kahles Vorgebirge scheint; seht ihr, dieser herrliche Baldachin, die Luft, dies wackre umwölbende Firmament, dies majestätische Dach mit goldnem Feuer ausgelegt: kommt es mir doch nicht anders vor als ein fauler, verpesteter Haufe von Dünsten. Welch ein Meisterwerk ist der Mensch! Wie edel durch Vernunft! Wie unbegrenzt an Fähigkeiten! In Gestalt und Bewegung wie bedeutend und wunderwürdig! Im Handeln wie ähnlich einem Engel! Im Begreifen wie ähnlich einem Gott! Die Zierde der Welt! Das Vorbild der Lebendigen! Und doch, was ist mir diese Quintessenz von Staube? Ich habe keine Lust am Manne - und am Weibe auch nicht."

3
Okt
2013

Carina schreibt

Meine Nichte Carina (8) und ich sind aus dem gleichen Holz geschnitzt. Man gebe uns eine Schreibmaschine, und wir werden still und vergnügt stundenlang vor uns hinklappern.

Als ich sieben war, brachte meine Vater eine damals schon antike Hermes Standard 6 nach Hause.



Eigentlich sollte meine Mutter das Zehnfingersystem darauf lernen. Aber sehr schnell gehörte sie mir. Ich schrieb darauf meine erste Geschichte. Irgendetwas mit einem Geissbock und einem Schloss. Und später 300 Seiten meines ersten Romans. Er blieb leider unvollendet - weil ich mich mit 15 fürs Leben entschied statt fürs Schreiben. Macht nichts. Der Roman war grottenschlecht.

Carina tippt in diesen Tagen auf einer elektrischen Brother aus den achtziger Jahren:



Das Möbel gehört meinem Vater, und ich habe darauf noch Seminararbeiten geschrieben. Man konnte in der Maschine ein paar Abschnitte Text speichern. Sie war eine Vorläuferin des Computers.

Gestern schrieben Carina und ich schliesslich vierhändig auf dem Ding. Wir bauten zusammen eine Geschichte: Sie einen Satz, ich einen Satz. Sie begann mit einem gfürchigen rosaroten Bären und einem dicken Schwarm Obstfliegen. Und einem Mädchen, das Georgina hiess. Oder eigentlich George.

Ich lernte viel übers Geschichtenschreiben. Und über Kinder:

1) Kinder sind harmoniebedürftig. Sie wollen ihre Figuren eigentlich gar keinen Gefahren aussetzen. Bär Max fletschte die Zähne, als er George sah. Aber Carina weigerte sich, George die Gefahrensignale erkennen zu lassen. Die beiden mussten sofort Freunde werden.

2) Das Handy kann im Märchen heutzutage den Zauberstab ersetzen. Zum Beispiel: "Ich habe ein App, das unsichtbar macht."

3) Manche Mädchen mögen Romanzen schon mit acht. Geschichte endete punktgenau: "Und dann wurde aus dem rosaroten Bären Max ein wunderschöner Prinz. Er und Geroge heirateten und lebten fortan in einem wunderschönen Schloss ohne Obstfliegen."

14
Sep
2013

Daheim geblieben

Als sie näher kam, sah ich: Es war Iri, also, Irene. Sie sah noch genau gleich aus wie vor 30 Jahren, als wir zusammen zur Schule gingen. Fröhlich. Nur ein paar kaum sichtbare Lachfältchen verrieten, dass sie auch so Mitte vierzig ist.

Sie ist hiergeblieben, wohnt nur 200 Meter und einen Bach entfernt vom Haus ihrer Eltern, vom Haus meiner Eltern. Sie hat zwei Kinder, 12 und 16. Sie ist Lehrerin geworden, wie viele hier. Sie sieht glücklich aus.

Während wir plaudern, studiere ich ihr Gesicht wie ich früher das Gesicht eines Interviewpartners mit verblüffenden Ideen studiert hätte. Ich suche nach Zeichen. Zeichen, die mir erklären, warum sie geblieben ist.

Klar, es ist schön hier. Perfekt. Aber hat sie keinen Hunger auf die Welt da draussen gehabt? Hat sie keinen Durst danach gehabt, sich selber zu erfinden?

Früher hätte ich sie ein bisschen dafür verachtet, dass sie nicht weggegangen ist. Ich ging, so früh ich konnte. Und an jenem stillen Septembertag daheim begriff ich, dass mich nicht nur der Hunger getrieben hat. Getrieben hat mich auch die schiere Perfektion dieser Gegend an einem stillen Septembertag. Es hätte mich zu viel Kraft gekostet, diese Perfektion zu wahren. Ich floh. Ich musste mich selber erfinden. Immer ein bisschen hungrig. Immer ein bisschen wild. Manchmal verzweifelt.

Leben heisst Risiken eingehen, mit Unerwartetem zurechtkommen müssen. Ich bin nicht uneingeschränkt stolz auf den Ort, an dem ich mich heute befinde. Aber ich bin stolz darauf, dass ich - bis jetzt - einen Weg gefunden habe.

Heute verachte ich Iri nicht. Im Gegenteil: Ich empfinde Respekt dafür, dass sie die Kraft aufgebracht hat, zu bleiben. Ich frage mich, wo sie sie hergenommen hat.
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