auf reisen

1
Sep
2015

Gott, arabischer Pop und heisse Dessous


Strasse in der Altstadt von Aleppo in Syrien, wohl vor dem Krieg (Quelle: wikimedia.org)

Später Nachmittag, Oktober 1998. Hinter mir das Tor des Hotels. Vor mir ein Häusermeer - die Altstadt von Aleppo. Ich sah ein Strassenschild und erschrank. Es war Arabisch, das hiess für mich: vollkommen unleserlich. Ich durfte mich auf keinen Fall verirren. Einem Passanten wollte ich mich hier lieber nicht anvertrauen - die Männer hatten alle diesen schwülen Blick, sobald sie mich Westlerin sahen. Ich ging also einfach geradeaus und wurde sofort mitgerissen von einer Flut von ungewohnten Sinneseindrücken.

Da waren Gassen mit Dutzenden und Aberdutzenden von Schuh-, Möbel- und Kleiderläden. Von überall her arabische Popmusik. Kein einziger Song aus dem Westen. Schaufenster lockten mit tiefen Decolletés und opulenter Reizwäsche. "Wer trägt das alles?" fragte ich mich - die meisten Frauen hier führten lange Mäntel und Kopftücher spazieren. Zu fromm für Spitzendessous. Dachte ich.

Sollte ich mir selber ein Kopftuch kaufen? In muslimischen Ländern sei das die beste Methode, sich vor zudringlichen Blicken zu schützen, hatte mir eine reisegewohnte Freundin versichert. Da sah ich Kreuze an einem Haus, eine christliche Kirche, unverkennbar. Vor der Tür eine Madonnenfigur in Blau und Weiss. Also doch kein Kopftuch. Wie könnte ich ein Kopftuch tragen in einer Stadt, in der es Christen gibt?

Schliesslich kam ich zum riesigen Platz unter der Zitadelle. Hier tobte der Feierabendverkehr - Dauerhupen inklusiv.

Genau in diesem Moment erhob sich die Stimme des Muezzin und füllte den Abendhimmel. Sie verkündete die Grösse Gottes. Dazu warf die Sonne ihre letzten Strahlen auf die lärmende Stadt und liess ihre Mauern in einem Rausch von roten, gelben und violetten Farbtönen untergehen. Nie werde ich diesen Moment vergessen.

Danach war es dunkel. Am Strassenrand hielten ein paar Taxis. Aus ihnen stiegen geschminkte Frauen mit offenen Haaren, spitzenverzierten Blusen und reich gemusterten Leggins. "Sind das nun die Trägerinnen der heissen Dessous?" fragte ich mich und folgte ihnen.

Sie strömten in die Kirche, die nun mit Kerzen erleuchtet war.

Dahinter eine Gasse, die mit ihren Lichtern lockte. Es war die Gasse der Lampenhändler, in jedem Schaufenster ein Kronleuchter, hundert Lampenläden, einer heller als der andere.

Ich ging bis an ihre Ende und dann wieder zurück ins Hotel. Ich durfte mich ja nicht verirren.

30
Aug
2015

Die Strasse des Diktators


Aleppo im Jahr 2007 (Quelle: orientsonne.de)

Das Flugzeug landete in Aleppo. Noch immer hoffte ich insgeheim, man werde mich gleich wieder nach Hause schicken - ich hatte kein Visum, niemand aus der Gruppe hatte eins. Man würde es uns am Flughafen geben, hiess es. Wir waren eine harmlose Schweizer Reisegruppe, etwas zwanzig Leute.

Nur ich war Journalistin - und man hatte mir eingeschärft, dass ich das nicht in den Visumsantrag schreiben dürfe. Es war 1998. Der Dikator Hafiz al Assad hatte die Redefreiheit massiv eingeschränkt, das wusste ich. Wie gefährlich Journalisten damals lebten, begreife ich erst heute, Internet sei Dank: Wer den Mund zu weit aufmachte, bezahlte mit dem Leben. Tausende sollen einfach verschwunden sein. Nun, mir drohte keine Gefahr. Ich hatte nicht vor, den Mund aufzumachen, kam aus dem Westen und brachte Geld. In den Visumsantrag hatte ich geschrieben, ich arbeite im Marketing. Ich bekam meinen Stempel. Es gab kein Zurück.

"Man sieht das, was man sucht", schrieb ich am 9. Oktober in mein Tagebuch. Ich sah eine bleiche Betonstrasse mit hellgrünen Wedelpflanzen auf dem Mittelstreifen. Die Strasse des Diktators, dachte ich. Später habe ich sie wiedergesehen, die Strasse, 2012, am Fernsehen, in einem Beitrag über den Bürgerkrieg. Ich wäre beinahe in Tränen ausgebrochen. Plötzlich war der Krieg sehr nahe.

Aleppo hat einmal zweieinhalb Millionen Einwohner gehabt. An einer fensterlosen Hauswand in der Innenstadt war ein Porträt von Assad angebracht. Es war so gross wie das Haus.


Hafiz al Assad in jungen Jahren. (Quelle: Wikimedia)

Später, in meinem Hotelzimmer, sass ich auf einem smaradgrünen, schlichten Sofa. Grün, die Farbe des Propheten, die Farbe des Oasen, die Farbe des Lebens. Durch die halb geschlossenen Jalousien sah ich ein Meer von Satellitenschüsseln. Unten in der Stadt ein ständiges Gehupe. Nah und doch weit weg. Es war ein Hotelzimmer, wie man sie nur im Orient findet - luftig und licht und hoch über der Welt. Eine kleine Raststätte auf dem Weg zum Paradies.

Wir könnten die Stadt noch ein Stündchen selber erkunden, hatte unsere Reiseleiterin gesagt. Sollte ich? Ich tat hier nur meinen Job als Reisebegleiterin. Ich war versucht, einfach noch ein Stündchen auf dem Sofa des Propheten sitzen. Aber dann packte mich doch die Neugier.

28
Aug
2015

Reise nach Syrien


Postkarte von der Zitadelle von Aleppo, aus dem Jahr 1998.

In Syrien könne jederzeit Krieg ausbrechen, las ich in der Zeitung. Ein Wasserstreit mit den Türken sei eskaliert. Ich war beunruhigt, denn das war einen Tag vor meinem Abflug nach Aleppo, im Herbst 1998. Die Türken hätten den Syrern den Euphrat abgegraben - den Fluss, der die Grossstadt Aleppo mit Wasser versorgte. Es könnte heute noch knallen. Danach nichts mehr am Radio - und Newsportale gab es noch keine. Um 16 Uhr rief ich ins Reisebüro an. Ich hoffte, mich drücken zu können.

Doch beim Reisebüro hiess es: "Alles halb so schlimm. Wir fliegen trotzdem." Alle anderen Mitreisenden seien informiert. Nur mich hatte man vergessen - ich war ja nur die Journalistin, die man auch noch mitnehmen musste. Die Reise nach Syrien war eine Leserreise des Magazins "B & B", bei dem ich Redaktorin war. Und alle Redaktoren bei "B & B" mussten ab und zu auf so eine Leserreise mit. Ich auch.

Ich hatte gar nicht nach Syrien gewollt. Ostpreussen wäre mir lieber gewesen. Kaliningrad. Aber nach Kaliningrad durfte nur der Chef. "Geh doch nach Syrien", sagte unsere Sekretärin. "Das ist total exklusiv. Und es soll so schön sein!"

So stieg ich am nächsten Morgen ins Flugzeug nach Aleppo. Es war ein klarer Herbsttag, und ich hatte einen Fensterplatz. Nie werde ich den Ausblick vergessen - die grüne Schweiz mit ihren klaren Konturen. Österreich. Dann, donauabwärts, immer weitere, trockenere Felder. Schliesslich die Türkei, ihre Erdoberfläche hellbraun kariert, Staubstrassen verästelt wie Blattgerippe - zur Linken das Schwarze Meer. Dann die mächtigen, graubraunen Höhen, wo die Türkei auf Syrien trifft. Hier versickerten selbst gut sichtbare Flüsse lange vor dem Meer. Eine Mondlandschaft.

Dann kamen wir in Aleppo an.

Die Erinnerung an diese Reise verfolgt mich seit Tagen: Jedesmal von Neuem, wenn ich die Bilder von flüchtenden syrischen Familien in Osteuropa sehe. Ich muss jetzt von dieser Reise erzählen. Ich will nicht damit angeben, dass ich einmal dort gewesen bin. Nein. Ich will zeigen, dass viele dieser Menschen einmal in grossen, Städten gewohnt haben. Dass sie ein Zusammenleben hatten und eine Kultur - eine sehr alte sogar. Ich tue es für sie - oder hoffe jedenfalls, es für sie zu tun. Es ist das einzige, was ich tun kann. Im Moment.

5
Aug
2015

Abenteuer-Ferien zu dritt


Der Kulturflaneur - hier im Maggiatal - war einer meiner beiden Reisebgleiter im Tessin. Der andere war unsichtbar - aber schwer zu ignorieren.

Der Herr Kulturflaneur zelebriert ja unsere Ferien im Tessin - hier. Und er hat recht: Jemand sollte sie zelebrieren. Das verdienen sie. Doch um ehrlich zu sein: Wir hatten einen Begleiter dabei, den der Herr Kulturflaneur nicht sehen konnte - der mir aber ziemlich zu schaffen machte. Ich habe über das Thema fremdgebloggt: Hier.

30
Jul
2015

Was jetzt noch bleibt


Postkartenwetter, sauberes Wasser, Swissness - Kurhaus in Orselina, Ort der letzten Abenteuer.

Die Touristin ist Dame bis ins Mark. Siebzig mindestens, aber sie trägt die Klamotten einer sportlichen 50-Jährigen mit mehr Geld als der Durchschnitt. Alles perfekt. Nur in ihren Augen glaube ich eine Einsamkeit zu sehen, wie man sie einzig auf den schrecklichsten Reisen erlebt. Doch ich muss mich irren. Sie hat einen Mann mit einem aufmerksamen Lächeln dabei - er ist bestimmt ein liebenswürdiger Reisegefährte, auch wenn er im Moment nichts sagt.

Wir sind in Orselina und warten auf denselben Bus. Selbst mit meinen schwachen Ohren kann ich hören, was das für Leute sind. "Berner Beamtenadel", sagte ich später zu Herrn T. Wir haben mit den beiden eine jener leicht aus den Fugen geratenen Konversationen, die Herr T. und ich jetzt oft mit anderen Paaren haben. Die Frau redet und schaut vage auf mich. Ich verstehe nicht, Herr T. übernimmt. Es funktioniert, jedenfalls auf der Oberfläche. Aber ich werde nie aufhören, es verstörend zu finden.

Dann sieht sie mich sehr direkt an und bewegt die Lippen. Sie sagt etwas, und sie braucht dafür ein weibliches Ohr. "Entschuldigung, ich verstehe Sie nicht", sage ich. "Ich höre nicht gut." Da sagt sie laut und deutlich: "Mi Maa isch drum demänt." Mein Mann ist eben dement. Und dann: "Wissen Sie, das ist so schwierig. Sie können sich nicht vorstellen, wie schwierig das ist."

Ich nicke und sage etwas, wahrscheinlich das Richtige. Jedenfalls mögen wir einander danach, es braucht gar keine Worte, und sowieso kommt der Bus.

Orselina. Dieses pittoreske Dorf am Sonnehang ob Locarno. Hier sind wir in den Ferien, weil die Reise hierher nicht stressig ist, das Klima mild und der öffentliche Verkehr passabel. Das Optimum zwischen meiner fragilen Gesundheit und Herrn T.s Sonnenhunger. Postkartenaussicht, sauberes Wasser, Swissness. Es ist ein Paradies für alte Leute. Der Preiskampf der Restaurants dreht sich hier um Kaffee und Kuchen, nicht um Capirinha und Piña Colada.

Später stiefeln wir durchs Maggiatal. Es ist zwei Wochen vor meinem 50. Geburtstag, und es sind Ferien so ganz anders als früher. Früher gab ich gerne die Abenteuerlustige. Obwohl ich mich schon damals gelegentlich gefragt habe, ob ich wirklich für das Abenteuer geboren bin. Im Grunde bin ich etwas hasenfüssig und sowieso komplett unsportlich.

Ich frage mich, was für Abenteuer jetzt noch auf mich warten. Bliebt mir nur noch das Abenteuer des Älterwerdens? Wenn ja, dann werde ich mich ihm stellen. So sportlich wie allen anderen. Nur: Was in aller Welt soll es darüber zu erzählen geben?

14
Mai
2015

Wandern ist blöd


Ein Lichtblick auf unserer Wanderung am Vierwaldstättersee: Liebliche Landschaft in der Nähe von Hertenstein

Der Herr T., alias Kulturflaneur will wandern gehen. Er hat ein grosses Projekt - er will den Vierwaldstättersee umrunden. "Wir werden früh aufstehen müssen", sagte er. "Gegen Abend gibt es Gewitter." Ja, seufzte Frau Frogg, und am Morgen wird es schwülheiss sein. 30 Grad! Mindestens!"

Ich hatte von Anfang an Mühe mit dem Projekt. Vierwaldstätterseewanderungen habe ich als Kind à discretion gehabt. Ich finde sie ein bisschen bieder. Aber was sollte ich machen? Sonst will ja ich immer ich mit Herrn T. spazieren gehen, und er will dann nicht. Da muss ich diese Gelegenheit schon packen.

Wobei - wenn man mir schlechte Laune bereiten will, zwingt man mich am besten zum Frühaufstehen an meinem freien Tag. Ich bin jeweils bis Mitte Nachmittag verstört, wenn ich um 6.30 Uhr morgens mit einer Ausflüglerherde durch den Bahnhof drängeln muss. Das war früher schon so. Schon deshalb bin ich nie eine begnadete Bergziege geworden.

Immerhin: Um 10.15 Uhr waren wir in Küssnacht. So früh, dass ich mir kaum vorstellen konnte, was man mit so viel Tag anfangen könnte. Heiss war es trotzdem schon.

Herr T. wollte unbedingt einen Umweg über die Hohle Gasse machen. Die Leser seines Blogs würden das von ihm wollen, sagte er. Doch, Leser, ich sage Euch: Die Hohle Gasse ist ein simpler Waldweg. Für so etwas könnt ihr zu Hause ins nächste Gehölz gehen. Gut, Wilhelm Tell war vielleicht nie in Eurem Wäldchen. Aber in der Hohlen Gasse ist er auch schon lange nicht mehr gewesen, glaubt mir. Ich refüsierte.

So hielten wir sofort Richtung Greppen und Weggis. Herr T. war bester Laune. Ich hörte bald auf, ihn auf lustige Strassenschilder oder hübsche Blümchen hinzuweisen. Er hätte sonst noch mehr Fotostops gemacht (die Früchte seines Schaffens könnt Ihr demnächst auf seinem Blog geniessen).

Der Wanderweg führte längere Zeit der Strasse entlang. Einer Strasse, die an sonnigen Tagen eine beliebte Strecke für Motorradkonvois und Cabriolets ist. Nun, ich werde mir weitere miesepetrige Bemerkungen ersparen. Ich hatte es ja gewusst.

In Greppen hatte Herr T. Erbarmen mit mir und spendierte ein Käfeli. Erfahrungsgemäss heitert ein guter Espresso meine Laune stets erheblich auf. Spätestens nach einem Käfeli nehmen meine Geschichten in der Regel eine versöhnliche Wendung. Auch die Landschaft tat kurz nach Greppen das beste, mir dabei zu helfen: Man lässt die Cabrio-Strasse hinter sich und taucht ein in eine Landschaft, in die die Jahrtausende charmante Hügelchen und Tälchen gefräst haben (Bild oben).

Einen Kilometer lang lang war ich geradezu fröhlich. Dann schoss mir ein schier unerträglicher Schmerz in die Hüften - eine Alterserscheinung, verdammt, man ist ja bald 50. Eine längere Pause wurde unumgänglich, und wir zogen in Hertenstein sogar eine verfrühte Heimreise in Betracht.

Irgendwie schaffte ich es dann doch noch bis Weggis und versöhnte mich dort mit den Herausforderungen des Lebens. Das Gewitter liess noch lange auf sich warten.

Herrn T.s wirklich sehr lesenswerte Schilderung unserer Wanderung kann man jetzt hier lesen.

10
Sep
2014

Terroristen-Hund

Herr T. und ich sind unterwegs auf das Michaelskreuz. Es ist ein Lieblingsspaziergang von Herrn T., hier mit kulturflaneur'scher Hingebung beschrieben. Mir ist das Hörgerät ausgestiegen. Genau an der steilsten Stelle schiesst plötzlich ein Hund wie ein zotteliger Blitz zwischen uns den Berg hoch. Etwas in der Art:


(Quelle: www.hundund.de)

Er sieht auch noch beneidenswert gutgelaunt aus. Eine Sekunde und - schwupp - ist er zwischen dem Maisfeld und einer Birke verschwunden. Naja, es ist Jagdsaison. Wahrscheinlich hat er ein Tierlein gerochen.

Etwa 200 Meter weiter unten steht ein Schild mit der Aufschrift "Hunde an der Leine führen". Etwa dort steht nun auch eine Frau und ruft amüsiert: "Hannibal!? Fuuusss!? Hannibal?!"

Frau Frogg sagt ungnädig: "Na, was erwartet sie denn, wenn sie ihren Hund Hannibal nennt? Dass er vor einem Berg zurückschreckt?" Die humanistisch gebildete Spaziergängerin weiss ja: Berge und Hannibal - eine Ausgangslage mit viel dramatischem Potenzial.

"Das hast Du falsch verstanden", schmunzelt Herr T., "Er heisst nicht Hannibal. Er heisst Taliban."

"Umso schlimmer", findet Frau Frogg stirnrunzelnd.

Die Frau ruft nochmals. "Taliban!? Fuuusss?! Tabliban!??" Wenn der Hund eine starke Führung braucht, so ist diese Frau sicher nicht die richtige Besitzern.

Ich frage mich, wie sie klingen wird, wenn sie ihren Taliban neben einem erlegten Rehlein findet.

2
Sep
2014

In Liverpool


The North Garden Restaurant (Bild von Herrn T.)

Es gibt in Liverpool eine charmante, kleine Chinatown. Sie besteht für Aussenstehende aus einem geschnitzten Tor und einer Strasse mit chinesischen Restaurants auf beiden Seiten. Alle waren bedenklich leer - nur "The North Garden" war bumsvoll. Also gingen wir in den "North Garden". Man will ja nicht in einem leeren Restaurant essen.

Die Kellnerin führte uns an einen Tisch, an dem bereits ein älteres Ehepaar sass. Einheimische, also, Engländer. Sie unaufdringlich blondiert, Typ Mammeli.* Er: Pensioniert, mit Glatze. Beide kleinbürgerlich. Sie hätten meine Eltern sein können - und doch beäugten wir einander zunächst voller Unbehagen.

Aber mit triefenden Schweinerippchen in den Händen kamen wir dann doch ins Gespräch. Weil wir so laut reden mussten, kam ich sogar ziemlich gut mit. Bald überlegten sie hin und her, was wir uns in Liverpool unbedingt ansehen müssten. Aber sie kamen auf keinen grünen Zweig.

"Ist das Beatles-Museum sehenswert?" fragte ich. Ich meine: Ich wäre da nie hineingegangen. Aber ich hatte einen Hintergedanken: Wenn man schon Leute in diesem Alter in Liverpool trifft, dann könnte es ja sein, dass sie einmal John Lennon am Ärmel gestreift haben. Oder so. Und Frau Frogg hätte dann schon gerne gewusst, wie das gewesen ist.

Tatsächlich: Der alte Herr erzählte bald, er habe die Beatles im Cavern Club gesehen. Noch bevor sie berühmt gewesen seien. Sogar zweimal. Das muss anno 1961 oder '62 gewesen sein.



"Hat man damals schon gesehen, dass die einmal so berühmt werden würden?" fragte ich.

"Oh no!", sagte der alte Herr. "Da spielten sieben Bands, alle zwei oder drei Songs. Damals gab es hier so viel Musik! Keiner wusste, was daraus werden würde."

Mutti hatte schon eine Weile nichts mehr gesagt. Das war Herrn T. - ever the Ladies' man - aufgefallen. Er fragte: "Und Sie? Haben Sie die Beatles gemocht?"

Da schmunzelt sie: "Nein, nein, ich stand eher auf die Rolling Stones."


* Schweizerdeutsch und - tschuldigung - leicht despektierlich für eine liebenswürdige, pummelige Frau mittleren Alters ohne ein einziges Haar auf den Zähnen

15
Aug
2014

Die Mauer


Hadrian's Wall bei Steel Cragg, im Vordergrund die Ruinen des Milecastle 39

Mauern, die ganze Völker trennen, haben seit jeher etwas Anrüchiges. Daran musste ich eines Morgens Ende Juli denken, als ich in einer lieblichen Ferienwohnung wenige hundert Meter vom Hadrianswall entfernt aufwachte.

Abend für Abend erreichten uns die schlechten Nachrichten aus aller Welt über BBC - aus Gaza, aus der Ukraine. Und aus Italien, wo die Küstenwache täglich einige hundert Flüchtlinge aus Afrika aus dem Meer fischt.

Die Hadriansmauer ist fast 2000 Jahre alt, erbaut vom gleichnamigen Römerkaiser. Sie markierte 300 Jahre lang die äusserste nordwestliche Grenze des römischen Reiches. Heute ist sie ein eindrucksvolles Bauwerk in einer betörend schönen Landschaft.

Der Wall war eine Befestigung, die römisches Hab und Gut und römische Bürger vor Überfällen der so genannten Barbaren aus dem Norden schützte. Autoren, die über die Mauer schreiben, betonen immer wieder, sie sei mit der Berliner Mauer überhaupt nicht zu vergleichen. Schliesslich habe es am Hadrian's Wall exakt nach jeder Meile ein Tor gegeben mit einem Turm, ein so genanntes Milecastle, 79 Milecastles an der ganzen Mauer. Man könne also davon ausgehen, dass ein lebhaftes Kommen und Gehen zwischen römisch Britannien und dem Skotenland im Norden geherrscht habe.

Keiner der Autoren aber vergleicht den Hadrian's Wall mit dem Mittelmeer, jenem gewaltigen Wassergraben, der das heutige Europa und Afrika trennt (und verbindet). Aber ich versuchte es. Ich konnte mir gut vorstellen, dass der Wall damals, genau wie das Mittelmeer heute, eine Grenze zwischen Arm und Reich, zwischen "entwickelt" und "unterentwickelt" darstellte.

Gab es im römischen Britannien ein Asylwesen? Keine Ahnung.

Dagegen weiss ich ungefähr, wie die römische Besatzungszeit in Britannien endete: Noch 398/99 führten römische Truppen an Wall einen Ausfall gegen die Pikten und Skoten im Norden durch. Doch wenig später griff das Chaos um sich - die Völkerwanderung setzte ein, es gab Bürgerkriege, Rom zog nach und nach seine Truppen aus Britannien ab. Sie wurden anderswo dringender gebraucht.

Manchmal frage ich mich, ob die Geschichte Europas gerade an unserer Süd- und Ostgrenze neu geschrieben wird. Und zwar auf eine Art und Weise, wie es sich weder rechte noch linke Kleingeister im Moment vorstellen können.

3
Aug
2014

Blaue Stunde und eine Geburtstagskarte

Noch schwelgen wir in Erinnerungen an unsere Englandreise der letzten drei Wochen. Hier fünf Hinweise auf Highlights, die ich etwaigen Nachahmern gerne mit auf den Weg gebe. Es sind Orte ganz leicht abseits der Wanderautobahnen und der Touristenfallen - meine persönlichen Geheimtipps, gewissermassen:


(Bild von Herrn T., hier mehr von ihm über unsere Reise).

1. Liverpool zur blauen Stunde: Liverpool ist eine faszinierende und eine merkwürdige Stadt. In den letzten Jahren ist aus der verfallenen Schifffahrtsmetropole an der Mersey ein feuchter Traum für Stadtplaner geworden. Neben alten Repräsentierbauten schiessen hier die architektonischen Knaller des frühen 21. Jahrhunderts in die Höhe.



Die Stadtmitte ist ein riesiges Einkaufszentrum, die Stadtmitte-Docks an der Mersey eine gigantische Gedenkstätte des Industriezeitalters, Unesco-Welterbe. Touristen, Touristen, Touristen. Ein Spaziergang zum Mersey-Ufer, ist dennoch sehr zu empfehlen. Am besten in der Abenddämmerung. Denn zur blauen Stunde fahren die Shopper allmählich nach Hause. Der Fluss liegt ruhig da. Am anderen Ufer in Birkenhead wartet die Fähre nach Belfast auf Passagiere. Und am Mariner's Wharf kann man auch bei unfreundlichen Temperaturen noch spät den Wakeboardern zuschauen.

2. Mit dem Zug durchs Wattenmeer: Auch wenn Gerüchte anderes behaupten: Man kommt in England mit dem Zug gut zurecht. Wer von Lancaster nach Carlisle will, wählt dafür am besten den langen Weg via Barrow-in-Furness. Klapprige, fast leere Züglein fahren durch eine spektakuläre Landschaft auf Brücken übers Watt. Für Binnenlandratten ein Must.


(Quelle: au-fil-des-rails.net).

Gleich nördlich der Station Seascale liegt der berüchtigte Nuklearkomplex Sellafield. Er verschandelt vom Zug aus gut sichtbar einige hundert Meter dieser sonst so unberührten Küste.

3. Claudia Severa lädt zum Geburtstagsfest: Claudia Severa hatte am 11. September Geburtstag. Allerdings wusste sie noch nicht, wie bedeutungsschwanger dieses Datum einmal sein würde. Sie lebte im zweiten Jahrhundert nach Christus im Fort Vindolanda, am äussersten Nordrand des römischen Reiches. Anfang September des Jahres 103, 104 oder 105 n. Chr. nahm sie ein Holztäfelchen und ritzte Schriftzeichen hinein. So schrieb man damals Briefe. Claudia Severa verfasste eine Einladung zu ihrem Geburtstagsfest für die Ehefrau des Fort-Kommandanten, Sulpicia Lepidina. Das Dokument ist in einem herzlichen Ton gehalten. Jemand entsorgte es später mit anderen Schriftstücken in einem Graben, wo Archäologen es im späten 20. Jahrhundert ausgruben. Es ist - so heisst es jedenfalls - die erste erhaltene Handschrift einer Frau in der westlichen Welt. Man erfährt darüber alles im Museum des Forts Vindolanda.

4. Newcastle - der Weg der sieben Geschichten: Newcastle ist nicht ganz so spektakulär wie Liverpool - aber die Städte haben eine ähnliche Geschichte. Beide waren Industriestädte, dann furchtbar abgewirtschaftet - und jetzt locken Museen die Touristen an. Eher zufällig haben wir am Flüsschen Ouseburn - einem kleinen Seitenarm der Tyne - einen bezaubernden Industrielehrpfad gefunden.



Das Bild zeigt Herrn T. vor einem ehemaligen Mehl-Lagerhaus mit sieben Stockwerken (engl.: seven stories). Heute ist es ein nationales Kinderbuchmuseum für sieben, 77 und 777 Kindergeschichten und heisst seven stories museum.

5. Die Jugendherberge am Ende des Universums: Der Skiddaw ist ein Dreitausender - nein, nicht 3000 Meter über Meer, sondern 3000 Fuss, umgerechnet rund 900 Meter. Ein eindrücklicher, kahler Haufen Gras und Steine im Herzen des Lake District. Es ist klar, dass die sportlich ehrgeizigen Gäste der Ferienregion ihn bezwingen wollen. Die Hauptroute nach oben ist steil, unansehnlich und eine Wanderautobahn. Für den Abstieg wählten wir einen lieblicheren Umweg. Er führt durch eine wenig begangene Moorlandschaft. Mittendrin taucht dieser merkwürdige Garten auf.



Unter den weit und breit einzigen Bäumen im ganzen Tal steht hier eine Jugendherberge. Sie sieht aus wie ein Trainingslager für angenehende Spione im Kalten Krieg - und man fragt sich, ob seit den siebziger Jahren je wieder jemand hier übernachtet hat. Von hier aus gings weiter durch eine Traumlandschaft. Es war eine anstrengende Wanderung - aber meine beste seit langer Zeit.
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diefrogg - 6. Okt, 20:27
Liebe Rosenherz
Danke für diesen Kommentar, eine sehr traurige Geschichte....
diefrogg - 11. Jan, 15:20
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auch positives oder negatives Denken genannt. In den...
diefrogg - 9. Jan, 18:14
liebe frau frogg,
ein bisschen versuch ich es ja, mir alles widrige mit...
la-mamma - 5. Jan, 14:04

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