16
Feb
2014

Die spinnen, die Jugendlichen!

Gestern besuchten wir ein befreundetes Paar. Wir hatten die beiden lange nicht gesehen. Schon beim Prosecco mussten wir die Abstimmungs-Katastrophe des letzten Sonntags durchdiskutieren - das Ja zur Initiative "Gegen Masseneinwanderung". Er, ich nenne ihn Nitro, unterrichtet Englisch am Gymnasium einer mittelgrossen Schweizer Stadt. Eine jener Städte, die die Initiative abgelehnt hat - mit dem fast schon komfortablen Neinstimmen-Anteil von 60,34 Prozent.

"Aber meine 17-jährigen Schüler! Ihr glaubt es nicht! Sie waren alle begeistert von der Initiative!" rief Nitro. "Einige wollten auch ihre Essays über das Thema schreiben. Was haben die über Dichtestress räsoniert!" Er schüttelte den Kopf.

"Was heisst 'Dichtestress' auf Englisch?" fragte Herr T.

Nitro murmelte irgendwas mit "distress". Ich verstand ihn nicht genau. Ich will es gar nicht wissen. Aber ich wüsste gerne, was mit diesen Jugendlichen los ist. Ist unsere junge Elite rassistisch?! Wo ist der Hunger auf eine offene Welt geblieben, den wir als Gymnasiasten hatten?!

Nitro konnte es uns auch nicht erklären. Er konnte uns nur eine Ahnung von der Begeisterung vermitteln, mit der diese gerade noch nicht stimmfähigen Jugendlichen ein Ja in die Urne gelegt hätten.

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arboretum - 16. Feb, 23:41

In der taz antwortete Friedrich Küppersbusch auf die Frage, wovor die Schweizer eigentlich Angst haben:

Vor sich. Entschieden hat die Abstimmung die deutschsprachige Schweiz, und bestgebashte Ausländer dort sind – die Deutschen. Wir sind schon niedlich. Die Schweiz selbst kann man als Erfolgsmodell für Integration betrachten, dreieinhalb Sprach- und Kulturgruppen unter einem Seppelhut und wirtschaftlich extrem erfolgreich. In einem Europa nach Schweizer Beispiel wäre die Schweiz unauffällig bis überflüssig.

trox - 17. Feb, 01:34

da hat Küppersbusch wohl ein bisschen "kort door de bocht"[1] argumentiert. Statt Seppelhut ist es wohl mehr der Mythos Gotthard (und die verschiedenen Löcher hindurch). Das Erfolgsmodell für Integration -- das beweisen die Abstimmungsresultate (schön zugespitzt im andernorts verlinkten Nebelspalter, danke für den Link) -- ist ebenso ein Mythos. Und: auch in einem Europa nach heutigem Modell ist die Schweiz unauffällig bis überflüssig -- mit einer Ausnahme: die Schweiz wird nun von Europa nach Strich und Faden durchgef**** (excuse my French) -- eben wurde Horizon 2020 und Erasmus+ ausgesetzt --, möglicherweise um das Exempel zu statuieren: so geht's, wenn ihr beginnt an der Freizügigkeit zu schrauben; mit freundlichen Grüssen an David Cameron, LePen, Geert Wilders, etc.

[1] holländisch für (argumentativer) Kurzschluss, wörtlich übersetzt: die Kurve geschnitten
arboretum - 17. Feb, 10:54

schön zugespitzt im andernorts verlinkten Nebelspalter

Welchen Artikel meinen Sie? Diesen? Die Links drumherum ändern sich immer wieder einmal, deshalb weiß ich leider nicht, auf was Sie sich beziehen.

Eben entdeckte ich zufällig einen Tagesspiegel-Artikel aus dem Jahr 2012, demnach rumpelte es wegen der Zuwanderung schon länger zwischen der Schweiz und der EU.
diefrogg - 17. Feb, 12:54

Ich entdecke immer wieder...,

dass ich mich bei diesen Diskussionen in einem merkwürdigen Dilemma befinde. Auf der einen Seite bin ich ja selber stinkwütend über dieses Resultat, finde seine Fremdenfeindlichkeit zum Kotzen und habe Angst vor seinen wirtschaftlichen Auswirkungen.

Auf der anderen Seite fühle ich mich schnell angegriffen, wenn sich dann hier Kommentatoren aus dem deutschen Ausland äussern. Aber das liegt wohl in der Natur der Sache, wenn man sich zwischen die Fronten stellt - und ich bitte um Nachsicht, wenn ich der Sache dann mal diplomatisch nicht mehr gewachsen bin.

Hier muss ich jetzt einfach anmerken: Herr Küpperbusch irrt sich. Die bestgebashten Ausländer in der Schweiz sind nicht die Deutschen. Die bestgebashten Ausländer in der Schweiz sind die Asylsuchenden. Das Brechreiz erregende Drama, das die SVP zu jedem, aber auch wirklich jedem Asylzentrum in der Schweiz medienwirksam veranstaltet, steht in keinem Vergleich zu dem, was Deutsche hierzulande über sich ergehen lassen müssen.

Und vielleicht noch dies: Deutschsprachige Ausländer wandern hier oft in die Unis, in die grossen Theater, in die Kader der Grosskonzerne und Banken ein. Stellenweise kann man gewissermassen von einem Elite-Transfer sprechen. Das weckt Ressentiments und Status-Ängste in der Mittelschicht. Solche Ressentiments finde auch ich nicht sympathisch. Aber insgesamt geht es den deutschsprachigen Ausländern in der Deutschschweiz wesentlich besser als allen anderen Migranten aus nicht deutsch- oder englischsprachigen Ländern, die zuunterst in unserer gesellschaftlichen Hierarchie stehen und Geringschätzung tagtäglich aus allen Gesellschaftsschichten auf sieben Arten hinnehmen müssen.

und zu guter Letzt nochmals zurück zu den "grünen" Argumenten, (Dichtestress, Zersiedelung etc.) die ich hier schon mehrmals erwähnt habe, weil sie mir wirklich zu denken geben: Zurzeit und angesichts begeisterter jugendlicher Ja-Stimmender denke ich darüber nach: Wie erklärt man diesen jungen Leuten in Zukunft, dass die SVP, (die rechtsnationale Absenderin dieser Vorlage), als Öko-Partei etwa so glaubwürdig ist wie die Autopartei, die sie vor Jahren geschluckt hat? Wie erklärt man den jungen Leuten, dass man mit solchen Voten einer Partei Macht verleiht, die auf Kosten von Minderheiten Politik für Millionäre und Unternehmer macht?

Für Antworten zu diesen Fragen aus dem deutschsprachigen Ausland wäre ich wirklich dankbar!
arboretum - 17. Feb, 14:49

Äh, der Regisseur Milo Rau, der sich in dem taz-Interview (erster Link im zweiten Kommentar) zur Schweiz zur Wort meldet, ist doch selbst Schweizer. Wo ist denn da nun das Problem?

Beim zweiten Artikel fand ich interessant, dass der Konflikt schon so lange schwelt. Das erklärt einerseits, warum die EU jetzt so prompt auf den Quark haut, andererseits darf man sich schon fragen, warum diese Einschränkungen - wenn sich schon damals die Frage stellte, ob das Verhalten der Schweizer Behörden gegen Abkommen mit der EU verstößt -, nicht schon damals Konsequenzen hatten.

Auf der anderen Seite fühle ich mich schnell angegriffen, wenn sich dann hier Kommentatoren aus dem deutschen Ausland äussern.

Warum eigentlich? Wäre es für Sie weniger problematisch, wenn sich hier gebürtige Franzosen, Engländer oder Italiener zu Wort meldeten? Und wäre sogar Kritik von österreichischen Kommentatoren leichter zu ertragen?

P.S. Küppersbusch - kennen Sie eigentlich seine Sendung "Tagesschaum" die mehrmals wöchentlich zum Bundestagswahlkampf 2013 lief? Findet sich noch auf Y*utube -, Küppersbusch also, sprach in der oben zitierten Passage gar nicht von der gesamten Schweiz, sondern nur von der deutschsprachigen Schweiz.

P.P.S. Welchen "Nebelspalter" (s.o.) meinten Sie? Ich finde den Link leider nicht.
diefrogg - 17. Feb, 20:38

Also,

erstens: Ja, ich fühle mich auch angegriffen, wenn österreichische Kommentatoren hier kommentieren (zum Beispiel unten Herr Steppenhund - das ist nicht, weil ich etwas gegen den Wiener Herrn Steppenhund oder die Österreicher habe. Sondern, weil es wehtut. Auch wenn ich weiss, dass Herr Steppenhund meine persönliche Haltung kennt und nicht mich persönlich angreifen will - denke ich jedenfalls). Kommentare in anderen Sprachen als Deutsch bekomme ich ja keine, ausser ab und an mal ein paar Brocken Holländisch ;) So war das gemeint.

Zweitens folgt, muss noch schnell was nachlesen.
arboretum - 17. Feb, 20:50

Bei dem Gedankenspiel mit den erwähnten anderen Ausländern bin ich davon ausgegangen, dass es darunter auch welche gibt, die ebenfalls Deutsch können.

Ich weiß nicht, wieso Sie denken, dass ich Sie persönlich angreifen will. Das tue ich nicht.
diefrogg - 17. Feb, 21:11

Nein, nein, das habe ich...

inzwischen schon begriffen!
arboretum - 17. Feb, 21:23

Ehrlich gesagt begreife ich nicht, wie Sie überhaupt auf die Idee kommen konnten, dass ich Sie persönlich angreifen will.

Wissen Sie, ich kenne nun auch etliche Medienschaffende, von daher weiß ich, dass es in dem Metier eine ganze Reihe gibt, die sich für grundsätzlich schlauer als ihre Leser halten (das halte ich wiederum für einen großen Fehler). Das sind dann oft auch die, die mit Medienkritik ganz schlecht umgehen können, dabei muss man doch gerade auch als Medienschaffender in der Lage sein, die eigene Arbeit wie auch die von Kollegen kritisch zu hinterfragen. Man schaue sich nur an, wie in Deutschland lange Zeit über die NSU-Morde berichtet wurde. Ich will jetzt nicht die Bezeichnung wiederholen, die in etlichen Medien lange Zeit gern für diese Taten verwendet wurde.
diefrogg - 17. Feb, 22:00

Da haben Sie schon...

recht. Fundierte Medienkritik hat ihre Berechtigung, und wir Medienschaffenden nehmen Kritik auch ernst (auch wenn wir gegen aussen manchmal das Gegenteil behaupten ;)

Meine Kollegen in Chefsesseln halten sich auch nicht grundsätzlich für schlauer als ihre Leser. Aber man schaltet oft auf Durchzug, weil man ES NICHT MEHR HÖREN KANN!!! Es kommt ja nicht nur aus einer Richtung. Es kommt jeden Tag von überall und in der unterschiedlichsten Qualität. Und nach so einem Sonntag... Sie können es sich vorstellen!

Aber mit dem nötigen Abstand vielleicht noch ein paar Worte zum Thema Fremdenfeindlichkeit in den Medien: Ich habe den Eindruck, dass die Berichterstattung über Ausländer hierzulande stark ideologisiert ist. Man erkennt bei einem Zeitungsbericht jeweils schon in den ersten zehn Zeilen: Das kommt von Rechts. Oder: Das kommt von Links. Das erschwert es enorm, die Blöcke der vorgefassten Meinungen zu durchbrechen.

Aber wie wirkt das? Und wo ist die Ursache dieser Ideologisierung? Ich glaube, wenn ich Zeit für ein Studium der Medienwissenschaften hätte, würde ich mich mit solchen Fragen befassen.
arboretum - 17. Feb, 22:14

Der Tagesspiegel berichtete übrigens im Herbst 2013 darüber, dass das bayerische Wirtschaftsministerium, das die Initiative Return to Bavaria startete, um überall auf der Welt nach rückkehrwilligen deutschen Fachkräften Ausschau zu halten, auch in der Schweiz um eben diese warb. Im Artikel heißt es, dass im Herbst 2013 in Schweizer Krankenkäusern 40 Prozent der Assistenz- und Oberarztstellen durch deutsche Mediziner besetzt seien.

Nun ist es ja so, dass die auch in deutschen Krankenhäusern fehlen, manche Kliniken können beispielsweise ihren OP-Betrieb nur noch mit Honorarärzten aufrecht erhalten. Fragen sich deutsche Arbeitgeber - wie beispielsweise Kliniken - eigentlich auch einmal, warum deutsche Fachkräfte lieber in der Schweiz arbeiten? Schöne Landschaften und Berge gibt es auch anderswo, und das höhere Gehalt gibt es nicht zuletzt deshalb, weil in der Schweiz auch die Lebenshaltungskosten sehr viel höher sind. Es muss also noch andere Gründe geben - vielleicht das Arbeitsklima?
arboretum - 17. Feb, 22:33

Oh, das Phänomen, dass die vermeintlichen Welterklärer Medienschaffenden sich für schlauer als ihre Leser/Zuschauer halten, beobachte ich hier bei ganz normalen Redakteuren (ohne Chefsessel). Sie sind häufig männlich, schon etliche Jahre im Geschäft und wenig netzaffin, soll heißen, sie kommunizieren nicht mit ihren Lesern, wenn die sich online zu einem Text zu Wort melden. Sie hängen noch diesem Sender-Empfänger-Denken an, demzufolge sie die einzigen sind, die etwas zu sagen haben.

Nachtrag: Vielleicht sind die Darstellunsformen Bericht und Leitartikel/Kommentar auch nicht so gut dafür geeignet, um a) die Leser für das Thema überhaupt zu interessieren und b) diese Ideologisierung zu durchbrechen.
diefrogg - 18. Feb, 13:11

Ja, solche Kollegen habe...

ich auch noch! Allerdings werden sie jetzt allmählich wegpensioniert. Auch stelle ich ein fallweises Desinteresse an Leser-Reaktionen durchaus auch bei jüngeren Leuten fest.

Eigentlich können sich Medienunternehmen aber diese Haltung immer weniger leisten. ... öhm ... dazu fällt mir noch eine Menge mehr ein. Vielleicht später, muss zurück an die Arbeit ;)
steppenhund - 17. Feb, 17:42

Ich finde das Abstimmungsergebnis nicht so besonders, kann aber auch die Jungen verstehen.
-
Ich könnte mir aber auch ein anderes Szenario vorstellen - und das nicht nur für die Schweiz. Jedes Land sperrt seine Grenzen gegenüber Ausländern und so, wie das ja auch in der DDR war, verbietet seinen Bürgern die Ausreise. Jeder bleibt dort, wo er geboren ist.
Das müsste doch ein unheimliches Heimatgefühl vermitteln. Und ich frage mich, wie die einzelnen Regierungen unsere verwöhnte Bevölkerung dazu bringen will, wieder Klos zu putzen und Straßen zu kehren. Der internationale Handel wird ausschließlich über Außenhandelsorganisationen durchgeführt, (wie in der Sowjetunion) die auch über die Ausgabe von Devisen achten. Und jedes Land darf seine Demokratie, Diktatur oder Monarchie haben, die es will. Keiner regt sich über die Zustände im Nachbarland auf. Jedes Land ist für sich selbst verantwortlich. Jugendliche, die ins Ausland verreisen? Undenkbar! Die sollen etwas arbeiten lernen, und zwar das, was im Land gebraucht wird. Damit sie aber glücklich werden, bekommen sie Drogen und Antidpressiva - ungefähr so wie "Schöne neue Welt". Wer unzufrieden ist, darf sich in Sterbekliniken anmelden. Ich glaube, das könnte funktionieren. Der Lebensstandard wird vielleicht etwas sinken, aber das Bewusstsein für "Leben" und was man davon hat könnte allenfalls steigen. Und irgendwie würden die Menschen vielleicht mitbekommen, dass das Leben aus dem Fernsehen oder nach dem Muster des Fernsehens Eine Lüge ist.

diefrogg - 17. Feb, 21:27

Tja, ich frage mich gerade...

ob es hier ein Emoticon für "lächelt bitter" gibt. Viellen so : :-/ ?
trox - 17. Feb, 19:46

Nebelspalter nachgereicht


diefrogg - 17. Feb, 20:34

Danke, trox!

Das macht meinen Kommentar an Frau Arboretum etwas kürzer. Vielleicht noch zur Ergänzung: Der Text ist eine satirisch zugespitze Zusammenfassung von dem, was in der Schweiz nach diesem Abstimmungsresultat im Grunde passiert ist.

Rau sagt: "Das Votum richtet sich zu 80 Prozent gegen die hoch qualifizierten Deutschen, die im Land sind. In der Schweiz fürchten sehr viele, die kulturelle Hegemonie zu verlieren." Das mag in dem Milieu so sein, wo sich Rau bewegt. Meine Erfahrung ist eine andere - aber ich bewege mich beruflich in einem anderen Milieu: Ich setze mich Tag für Tag mit den Innerschweizern auseinander, die sozusagen das geistige Kernland dieses Jas bevölkern. Ich habe auch mit sehr vielen Ja-Sagern Kontakt gehabt.

Heute hörte ich zum Beispiel dies von einem älteren Herrn aus einer Vorortsgemeinde von Luzern (er war dort früher lokal ein durchaus respektables Tier, deshalb fällt es mir schwer, ihn einfach als Hohlkopf abzutun). Er sagte: "Schauen Sie, wir sind ein Land mit 8 Millionen Einwohnern. Letztes Jahr wanderten 80000 Leute in dieses Land ein." 80000 Leute, das kann man sich hier gut vorstellen: Das sind so viele Leute wie die nahe lokale Metropole Einwohner hat. Der Mann fuhr dann weiter: "Nehmen Sie an, das geht jetzt weiter so. Dann müssen wir jetzt innert zehn Jahren die Infrastruktur für 800000 neue Einwohner bereitstellen: Schulen, Spitäler, Strassen, Züge, Wohnhäuser. Das können wir doch gar nicht!"

Klar, ich hätte das Problem dieses Mannes auch lieber mit Steuergesetzen und Bauvorschriften gelöst. Aber mit Deutschen als solches hat das eigentlich nichts zu tun.

Natürlich werden weder Herr Rau noch ich je die ganze Wahrheit kennen. Viele Leute werden ihre fremdenfeindlichen Ressentiments auch den Marktforschern nicht anvertrauen, die wohl jetzt schon das Ergebnis auswerten. Aber ich habe viel mit Leuten zu tun, die sich relativ offen gegen bestimmte Bevölkerungsgruppen äussern, wenn ihnen danach ist. Ich habe allenfalls ein paar negative Worte über Muslime mitbekommen. Deutsche waren nie ein Thema.

Zu guter Letzt noch etwas zum Scharmützel über die Ventilklausel, das Sie verlinkt haben, Frau Arboretum: Damals wurde die Schweiz meines Wissens nicht vertragsbrüchig. Aber Polen war natürlich not amused. Würden wir das Personenfreizügigkeitsabkommen tatsächlich kündigen, sähe das natürlich anders aus.

Die heftige Reaktion der EU (Kündigung des Erasmus-Programms) verstehe ich als berechtigte Drohgebärde: Die EU will der Schweiz jetzt zeigen, was sie riskiert, wenn sie das tut. Das tut weh, und mir tun alle jungen Schweizer Studenten leid, die jetzt nicht im Ausland studieren oder forschen können. Aber es enthält die Chance, dass ihre Grosseltern, die von all dem keine Ahnung gehabt haben, jetzt langsam zur Räson kommen.
arboretum - 17. Feb, 20:47

Ach so, Sie meinten diesen vorher schon einmal verlinkten Text, dass hatte ich missverstanden, sorry.* Ja, den hatte ich gelesen und mich sehr amüsiert.

@ trox: Dankeschön.

* Mir sind die Namen der Schweizer Sartiremagazine nicht so geläufig, ich vermute, Ihnen geht das mit denen, die in Deutschland erscheinen, ebenso.

Nachtrag (da Sie Ihren ursprünglichen Kommentar um lange Passagen ergänzt haben): Ich fand die beiden letzten Fragen und Antworten im Rau-Interview viel wichtiger. Denn dass es sich um ein europäisches Problem handelt, klang auch schon in diesem Leitartikel am 10. Februar im Tagesspiegel an.

Was die Auseinandersetzungen zwischen der Schweiz und der EU im Jahr 2012 betrifft, so habe ich mich eher gefragt, ob es seitens der EU folgenlos blieb, weil es damals nur Bürger aus osteuropäischen EU-Staaten betraf.
diefrogg - 17. Feb, 21:23

Ja, der Leitartikel...

im "Tagesspiegel" ist ausgezeichnet, soweit ich das beurteilen kann! Auch Rau kann ich nur weiter empfehlen!

Jetzt haben Sies vielleicht noch nicht gelesen, weil ich hier meine Kommentare so zusammenstückle und mir zwischendurch die Kontrolle über den Computer entgleitet. Deshalb hier nochmals zu der Sache mit der Ventilklausel 2012: Soweit ich weiss, war das damals kein Vertragsbruch der Schweiz, aber die EU war einfach not amused, weil man von etwas anderem ausgegangen war.

Was jetzt hingegen droht, ist die Kündigung sämtlicher bilateraler Verträge. Eigentlich bin ich froh, dass die EU da auf den Putz haut. Auch der Schweizer Bundesrat haut jetzt auf den Putz und sistiert die Einführung der Personenfreizügigkeit mit Kroatien. Nicht, weil der Bundesrat das gerne tut. Sondern weil die Schweizer jetzt auch erfahren müssen, was hier alles auf sie zukommt.

Lange genug war ja die Information über die Folgen des Ganzen doch eher ungenügend.

Neulich hatte ich übrigens in einem Kommentar an Sie noch eine wichtige Bemerkung versehentlich gelöscht: Sie hinterfragten damals die Kampagnenfähigkeit der Initiativgegner. Als ich das las, habe ich beinahe laut herausgelacht. Wenn man weiss, dass das ganze politische Establishment von ultralinks bis rechts der Mitte geschlossen gegen diese Initiative war, dann ist diese Kampagne wahrlich der Bankrott der Politik in diesem Land.
arboretum - 17. Feb, 21:31

Ja, ich habe den Unterschied zwischen damals und heute verstanden, keine Sorge. Mein erster Verdacht direkt nachdem ich den 2012er-Artikel gelesen hatte, richtete sich auch nicht gegen die Schweiz, sondern gegen die EU. Was wäre gewesen, wenn es damals nicht um osteuropäische Erntehelfer, die dann halt durch südeuropäische Erntehelfer oder wen auch immer ersetzt wurden, gegangen wäre, sonden wenn die Ventilklausel damals Deutsche, Franzosen und Engländer betroffen hätte. Ich werde den Verdacht nicht los, dass es in dem Fall schon eher irgendwelchen Stress für die Schweiz gegeben hätte, auch wenn die Schweiz nicht vertragsbrüchig wurde (und wenn es nur ein größerer medialer Shitstorm gewesen wäre). Aber so traf es eben lediglich die EU-Bürger, deren Arbeitnehmerfreizügigkeit Deutschland (und Österreich) seinerzeit selbst für einige Jahre einschränkte.

Nachtrag: Milo Rau nennt einige Gründe, warum die Gegner der Initiative nicht erfolgreicher waren, eine Mehrheit der Stimmberechtigten zu mobilisieren. Wobei es ja nur eine hauchdünne Mehrheit von Initiativenbefürwortern war, wie Sie selbst ja schon sagten. Viel hätte also nicht gefehlt.
diefrogg - 17. Feb, 21:37

Ja, die geharnischte...

Reaktion der EU habe ich damals auch in diesem Kontext verstanden. Das sollte ja eigentlich das Gute an der EU sein: Dass man wenigstens versucht, das Wohlstandsgefälle auszugleichen und dass alle die gleichen Rechte haben.
arboretum - 18. Feb, 14:16

Um nochmals auf diesen älteren Herrn aus Luzern zurückzukommen: Ich habe meine Zweifel, ob man das einfach so linear hochrechnen kann. Nur weil voriges Jahr 80.000 Migranten kamen, heißt das nicht, dass die Zuwanderung in den kommenden zehn Jahren gleichbleibend verläuft. Auch berücksichtigt diese Rechnung nicht, dass nicht alle davon dauerhaft bleiben / bleiben wollen. Zudem sterben ja auch immer eine Anzahl Einwohner weg. Und nicht zuletzt gibt es auch so etwas wie Binnenmigration. Ich weiß nicht, wie das in der Schweiz ist, aber in Deutschland zeichnet sich schon seit Jahren eine Landflucht ab, insbesondere in den strukturschwachen Gebieten.

Und weil wir es gestern von David Cameron hatten, hier noch das politische Feuilleton, das das Deutschlandradio heute Morgen sendete: Wie die deutsche Politik von den Briten überrollt wird. Reformen oder Austritt? Die britische Frage droht, die EU zu zerreißen (Audio) von Almut Möller, sie leitet das Alfred von Oppenheim-Zentrum für Europäische Zukunftsfragen im Forschungsinstitut der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik e. V. (DGAP). Demnach hat die EU noch ganz andere Probleme als die mit der Schweiz, auch wenn diese gerade im Fokus stehen. Die Autorin mahnt, dass die deutsche Regierung jetzt 'mal in die Pötte kommen sollte - nur ist die dummerweise gerade sehr mit sich selbst beschäftigt (wegen Edathy usw.). Und von Merkel hörte man ja schon im Wahlkampf nichts zur EU, im CDU-Wahlprogramm stand auch kaum etwas (ein kurzer Absatz, wenn ich es richtig im Kopf habe).
diefrogg - 18. Feb, 18:35

Ich hätte dem...

älteren Herrn natürlich ähnlich geantwortet wie Sie. Jetzt ist es nicht meine Aufgabe, ihm zu antworten. Ich musste ihm nur helfen, sein Recht auf freie Meinungsäusserung wahrzunehmen. Ich habe das Beispiel auch eigentlich gebracht, weil ich der Behauptung, die Deutschen-Feindlichkeit sei das wesentliche Kriterium für dieses Ja gewesen, etwas entgegen setzen wollte.

Aber vielleicht wollen Sie mit diesen Argumenten auch die Frage danach beantworten, was wir den Jugendlichen mit den "grünen" Ja-Argumenten sagen sollen. Falls ja: Danke jedenfalls für den Versuch! Ich hoffe wirklich, dass es irgendwo ein paar Staatskundelehrer gibt, die es schaffen, den Jugendlichen ein paar solche eigentlich simplen Denkanstösse mitzugeben. Das Interview mit Milo Rau enthält übrigens auch ein paar gute Denkanstösse in diese Richtung (und ein paar Denkanstösse über die Hilflosigkeit der Linken bei dieser Thematik).

Was Cameron betrifft: Ich weiss nicht so recht, ob ich über diese Entwicklung eher erleichtert oder eher besorgt sein soll. Man beobachtet ja in Grossbritannien ein ähnliches Phänomen wie in der Schweiz: Das die Rechtsnationalen die Regierungen in der Personenfreizügigkeits-Frage gewissermassen unter der Daumenschraube haben: "Spurt Ihr nicht, so gewinnen wir die nächsten Wahlen!" Das ist mal das Besorgnis erregende. Hierzulande kann man das zurzeit sehr gut beobachten. Zur Erleichterung neige ich, weil es vielleicht klüger ist, wenn David Cameron diese Diskussion führt als, sagen wir, Marine Le Pen. Auch wenn ich seine Art zu regieren sonst nicht besonders sympathisch finde.
arboretum - 17. Feb, 21:58

Was die Jugendlichen und jungen Erwachsenen angeht, fand ich diesen Kommentar von Fabian Leber im Tagesspiegel ganz interessant, zumal er darin auch Deutschland in den Blick nimmt, wo der Fachkräftemangel auch nicht ohne Zuwanderung behoben werden kann.

Ich erinnere mich auch noch gut daran, wie 1993 ein frischgebackener Doktor der Physik in meinem Beisein sagte, der Mauerfall sei jobmäßig das Schlimmste, was den westdeutschen Physikern passieren konnte (es gab damals plötzlich kaum noch Jobs für Physiker, Maschinenbau- und Elektrotechnikingenieure).

diefrogg - 17. Feb, 22:09

Ja, erzählen Sie das...

meinem Bruder. Er ist Professor an einer Schweizer Uni und lästert gerne: "Das musst Du Dir vorstellen: Ich bin der einzige Schweizer auf meinem Stock! Jedesmal, wenn ein Neuer kommt (auch wieder ein Deutscher) muss ich dem erst erklären, wie das hierzulande läuft." Er kann stundenlang erzählen.

Ich bin aber sicher, dass er dennoch Nein gestimmt hat - wie viele Leute, die viel mit hoch qualifizierten Zugewanderten zu tun haben. Sie kennen die ökonomischen Zusammenhänge...

Wie es allerdings mit jenen aussieht, die sich in diesem Gerangel als Verlierer betrachten - wer weiss...
arboretum - 17. Feb, 22:22

Wie kommt das, dass deutsche Profs an Schweizer Unis so erfolgreich sind? Sind die so viel besser als andere Bewerber? Ihr Bruder ist ja bestimmt nicht der letzte Mohikaner einzige Schweizer Prof - wo bleiben die habilitierten Schweizer Wissenschaftler ab? Wandern die ihrerseits alle aus, so dass es in der Schweiz nicht mehr genug gibt? Oder werden in der Schweiz einfach nur so wenige habilitiert? Entscheiden die Berufungskommissionen allesamt einseitig?
steppenhund - 17. Feb, 23:05

Ich habe gerade ein Team von 8 Bulgaren geschult. Im Bereich Software-Test. Abgesehen davon, dass es schwer möglich ist, so viele Leute in Österreich zu rekrutieren, ist der Ehrgeiz und Einsatzwille bewundernswert und ganz beachtlich.
Das erste Urteil, welches österreichische Kollegen, die der Angelegenheit eher abweisend gegenüberstehen, abgegeben haben, war: die sind schnell und arbeiten sehr intelligent.
Es scheint so zu sein, dass Leute, die im Ausland arbeiten, sich eher sehr bemühen. Es war ein Vergnügen, mit ihnen zu arbeiten.
diefrogg - 18. Feb, 12:57

@arboretum

2007 gabs bei uns eine Diskussion darüber - damals kam da und dort in den Medien auch eine gewisse Gehässigkeit den Deutschen gegenüber zum Ausdruck. Die Rede war etwa von "deutschen Seilschaften" in den Berufungsgremien. Die NZZ hat die Lage hier sehr differenziert analysiert. Das Problem war durchaus hausgemacht. Wie die Lage heute aussieht, weiss ich nicht. Gelöst scheint das Problem nicht, wie dieser Bericht aus dem TagesAnzeiger von 2013 zeigt. Er legt auch nahe: Die Ursachen sind vielfältig.

@ steppenhund: Mich hat ja immer überrascht, wie gut Leute aus den ehemaligen Sowjetstaaten oft Deutsch konnten (obwohl Russisch so sehr anders ist als Deutsch). Ich stellte, als ich in den neunziger Jahren in Russland war, auch eine Bildungsfreundlichkeit fest, die ich hierzulande manchmal ein wenig vermisse. Die gleiche hohe Motivation und intelligente Arbeitsweise stelle ich auch bei unseren jungen Journalisten fest - seien es Schweizer oder (eher selten unter den Jüngsten) Deutsche. Das ist ein Traumberuf. Wer das grosse Los einer Praktikumsstelle gezogen hat, ist höchst einsatzwillig.
arboretum - 18. Feb, 13:54

Dr. Hirschi machte in seinem NZZ-Artikel 2011 sehr konkrete, sehr vernünftige Vorschläge, wie die Schweizer Unis reformiert werden könnten - der Bericht aus dem Tagesanzeiger klingt nun nicht so, als seien diese Vorschläge aufgegriffen worden. Warum pennt das zuständige Ministerium?
diefrogg - 18. Feb, 18:20

Na, das sind ja jede...

Menge spannende Themen, die Sie da aufwerfen. Ich fange mal hinten an - auch wenn ich Ihnen auf die Frage: "Welches Ministerium hat denn da geschlafen?" nur eine pauschal helvetische Antwort geben kann: "Das ist von Kanton zu Kanton verschieden."

Fangen wir mal bei der ETH an. Die ist dem Bund unterstellt, nämlich dem Eidgenössischen Departement für Wirtschaft, Bildung und Forschung. Haben die was getan? Um ehrlich zu sein: Ich habe keine Ahnung und konnte auch auf die Schnelle im Netz nichts finden.

Die anderen Universitäten der Schweiz sind den Regierungen der jeweiligen Kantone unterstellt, in der sie ihren Sitz haben - also jenen von Zürich, Bern, Basel-Stadt, St. Gallen, Freiburg, Genf, Luzern, Lugano. Es gibt Gremien, in denen die verschiedenen Unis zusammen arbeiten. Aber was da abgeht, entzieht sich meinen Kenntnissen. Ich werde aber meinen Bruder fragen, wenn ich ihn das nächste Mal sehe. Vielleicht weiss der etwas.
arboretum - 25. Feb, 21:33

Der Tagesspiegel berichtete gestern übrigens über das jüngste Gutachten der Expertenkommission Forschung und Innovation: Die besten Wissenschaftler bleiben im Ausland. Zitat:

Nach einem Bericht von „Spiegel Online“ sind zwischen 1996 und 2011 rund 4000 Wissenschaftler mehr abgewandert als ins Land kamen, obwohl deutsche Wissenschaftsorganisationen mit millionenschweren Rückkehrerprogrammen um Forscher aus dem Ausland werben. (...) Insbesondere die Schweiz schaffe es im Gegensatz zu Deutschland, für die Besten attraktiv zu sein.

Die deutschen Unis und Bildungsminister sollten vielleicht auch einmal Dr. Hirschis Empfehlungen lesen - und umsetzen.
diefrogg - 26. Feb, 10:17

Ja, das ist...

schon merkwürdig. Dabei hatte ich bei meinen Reisen immer den Eindruck, die Lebensqualität in Deutschland sei eigentlich sehr gut, in mancherlei Hinsicht vielleicht sogar besser als in der Schweiz. Aber die Ursachen für solche Phänomene sind ja meistens komplex.
Jossele - 25. Feb, 17:39

Ich war ja grad jüngst mit einem schweizer Ehepaar in Cuba unterwegs, sogar Sozialdemokraten.
"Bei uns in der Schweiz..." begann jeder zweite Satz. Fleißig sind die Schweizer und wollen halt nicht, dass da irgendwer daherkommt und ihnen etwas von redlich erworbenen wegnimmt. Die haben Zuckerln an Kinder verteilt, weil die Kinder sind arm und man kann schön barmherzig sein.
Bleiben sollen die aber wo sie sind, weil sowas passt nicht in die Schweiz, sagen sie.
Menschen wollen die nicht hereinlassen, oder halt nur wenn´s unbedingt nötig ist für die Wirtschaft.

Mich wundert das Egebnis nicht.

diefrogg - 26. Feb, 10:14

Da kann ich nur...

peinlich berührt aufjaulen! Unsympathische Sozialdemokraten, das! Und nicht ganz repräsentativ für die Leute in unserem Land, hoffe ich. Übrigens sind 23 Prozent der 8 Millionen Einwohner der Schweiz ausländischer Herkunft. In Österreich sind 11 Prozent. Ihre kubanischen Reisebekanntschaften haben also nicht allein das Sagen über die schweizerische Einwanderungspolitik.
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